Die Tränen der Henkerin
Hampelmann gegenüber einem Zunftmeister der freien Reichsstadt Reutlingen? Es kostete ihn große Mühe, von Kastelruth nicht anzubrüllen. »Wie Ihr meint«, presste er hervor.
Wenige Augenblicke später verließ er das Rathaus. Auf der Straße schlug ihm kühle Abendluft entgegen. Seine Männer hatten in der Zwischenzeit die Pferde beim Gramansbrunnen getränkt und warteten nun auf einer niedrigen Mauer sitzend auf ihn.
Erhard bedachte das Rathaus mit einem abschätzigen Blick über die Schulter, dann trat er zu seinen Leuten. »Wir suchen uns ein Nachtlager«, befahl er. »Und morgen rekrutieren wir Männer, bilden Suchmannschaften und klappern die umliegenden Städte und Dörfer ab. Diese angebliche Melissa kann nicht weit sein, wir werden sie finden und ergreifen.« Verstohlen sah er zum Haus seines Sohns hinüber. Sein Entschluss stand fest: Er hatte dem Wagner nicht umsonst ein kleines Vermögen für seine Arbeit bezahlt, er würde seine Spezialanfertigung noch brauchen. Und zwar sehr bald.
***
Die Nacht senkte sich über die Stadt, Finsternis breitete sich aus. Der Mond war nur eine schmale Sichel, die kaum Licht spendete. Von Säckingen lächelte zufrieden. Eine gute Nacht für Mörder, Diebe und andere Halunken. Der Nachtwächter machte eben seine erste Runde, sein Licht flackerte, und sein Singsang forderte alle auf, in den Häusern zu bleiben oder sich rasch nach Hause zu begeben. Es waren friedliche Zeiten, daher lief er allein und nur zu jeder vollen Stunde. Wer es darauf anlegte, konnte hundert Männer und Frauen in ihren Betten erwürgen; niemand würde es vor dem Morgen bemerken.
Von Säckingen wartete, bis die Mondsichel hinter dem Hochturm verschwunden war. Dann trat er vom Fenster weg. Es war so weit. Die Stadt lag in tiefem Schlaf, jetzt brach die Stunde an, auf die er gewartet hatte. Er legte einen grauen Mantel an, band sich eine Theatermaske vor das Gesicht und prüfte sein Messer, dessen Klinge er mit Engelsgeduld immer wieder über den Schleifstein gezogen hatte, bis er ein Haar damit zerteilen konnte. Wer auch immer diese Klinge heute Nacht zu schmecken bekam, würde ein schnelles Ende finden. Da er niemanden unnötig töten wollte, band von Säckingen sich zusätzlich einen Eisenknauf an den Gürtel, mit dem er einen Menschen mit einem einzigen Schlag ins Reich der Träume schicken konnte, ohne dass dieser auch nur einen Laut von sich gab.
Den Weg zum Anwesen der Fügers kannte von Säckingen inzwischen im Schlaf. Selbst wenn man ihm die Augen verbunden hätte, hätte er sein Ziel nicht verfehlt. Wie beim letzten Mal näherte er sich dem Haus von der Rückseite. Den Wächter, den Wendel Füger aufgestellt hatte, schaltete er mit einem Hieb gegen die Schläfe aus. Dem Kerl würde einige Zeit der Kopf dröhnen, wenn er wieder aufwachte; mehr leiden dürfte er aber darunter, dass er sich wie ein altes Weib hatte überrumpeln lassen. Leicht kam in solch einem Fall der Verdacht auf, dass der Wächter bestechlich war. Von Säckingen verzog verächtlich den Mund. Burschen wie dieser bereiteten ihm kein Kopfzerbrechen – sie waren zu unerfahren, um sein Vorhaben ernsthaft zu gefährden. Der einzige wirklich gefährliche Mann im Haus war dieser Antonius, ein ausgezeichneter Kämpfer, mit dem er sich lieber nicht anlegen wollte.
Auch dieses Mal war es ein Leichtes, das Schloss mit dem Draht zu öffnen. Bevor von Säckingen jedoch die Tür aufzog, legte er sein Ohr daran und horchte. Seine Sinne waren geschärft wie die eines Raubvogels. Wenn Antonius hinter dieser Tür wartete, musste er früher oder später ein Geräusch machen. Nichts war zu hören. Entweder war niemand da, oder derjenige hatte Verdacht geschöpft und sich weder bewegt noch geatmet.
Mit einem Ruck riss von Säckingen die Tür auf. Lautlos sprang er in den Raum und nahm eine tiefe Kampfstellung ein, das Messer in Hüfthöhe, bereit zum tödlichen Stoß. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Wendel Füger musste sich sehr sicher fühlen. Sein Pech, von Säckingens Glück. Doch von Säckingen wusste, dass der schlimmste aller Feinde nicht hier lauerte, sondern in der Stube. Die knarzende Treppe. Die konnte er weder mit einem Messer noch mit einer anderen Waffe ruhigstellen. Er hatte jedoch eine Technik ersonnen, um diesen tückischen Gegner zu überlisten: Er würde seine Waffen griffbereit jeweils ein paar Stufen höher vor sich platzieren und dann auf allen vieren hinaufsteigen, um sein Gewicht besser zu verteilen. Zudem
Weitere Kostenlose Bücher