Die Tränen der Henkerin
grenzenlos sein. Es war zum Verzweifeln. Er hatte Mechthild endlich gefunden und konnte doch nicht mit ihr tun, was er wollte. Heute Nacht musste er etwas erledigen, das ihm keiner seiner Männer abnehmen konnte und das zugleich sein Gewissen schwer belastete. Das blaue Kleid zu hinterlegen und das Henkergewand abzuliefern, das war ein Spaß gewesen, ein Abenteuer. Aber nachts in ein Haus eindringen und dem Hausherrn die …
Er verscheuchte den Gedanken. Othilias Befehl duldete keinen Widerspruch. Außerdem hatte er schon Schlimmeres getan. Viel Schlimmeres. Und es traf keinen Unschuldigen. Wendel Füger hatte den Grafen de Bruce beleidigt und war damit davongekommen. Und er hatte ihm selbst Mechthild vor der Nase weggeschnappt. Aus irgendeinem Grund fiel dieser jämmerliche Weinkrämer immer auf die Füße. Was für eine üble Laune des Schicksals! Da half nur eins: Er musste das Schicksal korrigieren.
***
Erhard und seine Männer passierten das Untere Auentor, kurz bevor es geschlossen wurde, und ritten ohne Verzögerung auf das Rathaus zu. Ein einsamer Reiter sprengte ihnen entgegen; er hatte es offenbar genauso eilig, die Stadt zu verlassen, wie sie es eilig hatten, die schützenden Mauern noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen.
Ein mulmiges Gefühl beschlich Erhard, als er absaß. Hoffentlich war noch jemand da, dem er sein Anliegen vortragen konnte, und hoffentlich sah Wendel ihn nicht. Er schaute sich verstohlen um. Das Rathaus lag an der breiten Hauptstraße, an der auch sein Sohn wohnte. Ein Blick auf die andere Straßenseite verriet ihm, dass die Lampen bereits entzündet, die Läden jedoch noch nicht geschlossen waren. Erhard seufzte. Sein Sohn war so nah und doch unerreichbar für ihn. Und was er im Begriff war zu tun, würde kaum dazu beitragen, Wendel wieder auf seine Seite zu ziehen. Doch es musste getan werden. Eines Tages würde Wendel es einsehen und ihm dankbar sein.
Erhard eilte die Stufen hinauf und wandte sich an eine der Wachen. »Ich muss einen Ratsherrn sprechen«, sagte er. »Sofort. Es ist überaus wichtig, denn ich habe einen Mord anzuzeigen, den eine Rottweiler Bürgerin begangen hat.«
Die Wache riss die Augen auf und rannte los.
Nur wenige Augenblicke später stand ein in edle Tuche gekleideter Mann mit grauen Schläfen und buschigen Augenbrauen vor ihm, der seinen Namen wissen wollte und sich selbst dann als Ratsherr Thomas von Kastelruth vorstellte. »Ihr habt Kenntnis von einem Verbrechen? Bitte sagt mir, wo es sich zugetragen hat. Ich werde sofort die Büttel hinschicken.«
Erhard schluckte verlegen. »Da handelt es sich um ein Missverständnis, geschätzter Ratsherr von Kastelruth«, sagte er rasch. »Das Verbrechen, von dem ich spreche, wurde vor mehr als zwei Jahren begangen.«
Thomas von Kastelruth kniff die Augenbrauen zusammen. Es war ihm anzusehen, dass er glaubte, einem Wichtigtuer gegenüberzustehen.
Erhard Füger straffte die Schultern. »Was ich zu sagen habe, ist dennoch von äußerster Wichtigkeit, glaubt mir. Die Person, von der ich spreche, ist hochgefährlich und bereit, weitere Verbrechen zu begehen.«
»Nun gut«, sagte von Kastelruth. »Folgt mir. Aber fasst Euch kurz, mein Weib wartet mit dem Abendessen. Ihr könnt von Glück reden, dass Ihr mich noch angetroffen habt.« Er führte Erhard in eine Schreibstube, nahm hinter einem großen, unter einem Berg von Pergamentrollen ächzenden Eichentisch Platz und deutete auf den einfachen Schemel, der vor dem Tisch stand. »Setzt Euch, Meister Füger.« Er lehnte sich zurück. »Und bevor Ihr sprecht, hört meine Ermahnung: Der Rat von Rottweil wird niemanden leichtfertig vor Gericht stellen, nur weil ein Fremder ihn eines Vergehens beschuldigt. Wenn Ihr Euch nicht sicher seid, dass Eure Anschuldigungen wahr sind, so könnt Ihr jetzt aufstehen und als ehrenwerter Mann das Rathaus verlassen.«
Erhard zögerte keinen Augenblick. »Ich bin mir absolut sicher.«
»Dann lasst hören. Eine unserer Bürgersfrauen soll einen Mord begangen haben, sagt Ihr. Um welche Frau handelt es sich?«
»Melissa Füger«, stieß Erhard hervor. Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.
Von Kastelruth beugte sich vor. »Ist das nicht die Gemahlin Eures Sohnes?«
»Bedauerlicherweise ja.«
»Und was genau werft Ihr Melissa Füger vor?« Der Ratsherr lehnt sich wieder zurück.
»Zuallererst ist sie eine Betrügerin! Sie ist nicht die, für die sie sich ausgibt.« Er zog das Dokument aus dem Ärmel, das ihm Herrmann de
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