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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Rottweil verlassen, bevor wir ihn nicht bis auf die nackte Haut untersucht haben. Das gilt für alle, Männer wie Frauen, egal welchen Standes. Wenn der Entführer noch in der Stadt ist, finden wir ihn.«
    Wendel versuchte, die Herrschaft über seinen Körper wiederzuerlangen, indem er tief ein- und ausatmete. Immerhin ließ das Zittern nach. Die Suche würde erfolglos bleiben. Dessen war er sich sicher. Die Entführung war sorgfältig geplant und eiskalt durchgeführt worden, und zwar von jemandem, der sein Handwerk verstand. Von jemandem, der sich lautlos bewegen konnte, jemandem, der wusste, wie man Menschen betäubte, ohne sie zu töten. Entweder war es ein außergewöhnlicher Krieger gewesen – oder ein Henker. Eine Henkerin. Melchior, der Henker von Esslingen. Seine Frau. Für wen sonst war es von Nutzen, ihm die Tochter zu nehmen? Also hatte sie es doch getan, und er hatte sich ein weiteres Mal in ihr getäuscht.
    »Brecht die Suche ab«, sagte er rau. »Öffnet die Stadttore. Ihr werdet nichts finden. Sie ist über alle Berge.«
    »Sie?«, fragte Lorentz überrascht.
    Wendel schloss kurz die Augen. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er unter Wasser gedrückt, in seinen Ohren rauschte es. »Können wir ungestört reden?«
    Lorentz wechselte einen Blick mit seinem Vater. Der nickte knapp und winkte dann dem Ratsherrn Thomas von Kastelruth zu, der sofort zu ihnen trat und sie in seine Schreibstube führte. Auf dem Weg dorthin wurde der Stein, der auf Wendels Brust drückte, ein wenig leichter. Alle waren gekommen, um ihm beizustehen; sie ergriffen seine Hände; riefen ihm zu, dass niemand ungestraft einem Rottweiler Bürger Unrecht antun konnte, dass sie ganz Württemberg umkrempeln würden, um seine Tochter zu finden. Er war nicht allein. Doch er war der Einzige, der wusste, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten.
    Als sie Platz genommen hatten, begann Wendel zu reden. »Lieber Lorentz, werte Herren. Ich danke Euch vielmals für Eure Anteilnahme und Euer rasches Handeln.« Er legte eine Hand an sein Herz. »Ich bin tief bewegt.«
    Alle drei neigten kurz den Kopf, und alle drei hatten die Augen ein wenig zugekniffen, als müssten sie gegen die Sonne blicken.
    »Du sprachst vorhin von einer Frau«, sagte Lorentz leise. »Wen hast du damit gemeint? Weißt du, wer dein Kind entführt hat?«
    Wendel seufzte. »Ich fürchte, es war Melissa.«
    Von Kastelruth sprang vom Stuhl. »Eure Gattin? Bei allen Heiligen, wie kommt Ihr darauf? Das wird ja immer toller! Wie meint Ihr das? Um Gottes willen, sprecht!«
    Wendel erschrak. Warum reagierte der Ratsherr so aufgebracht? Er zögerte, bevor er sprach. Jedes Wort musste er sorgsam wählen, denn er wollte nicht alles preisgeben, was er wusste. Was im Esslinger Kerker geschehen war, ging niemanden etwas an. Er schluckte. »Wir hatten einen Streit«, erklärte er schließlich. »Einen schlimmen Streit. Ich habe sie im Zorn des Hauses verwiesen.«
    »Und nun vermutet Ihr, dass sie Eure Tochter zu sich geholt hat?«, fragte Lorentz’ Vater ungläubig.
    Lorentz sagte nichts, er sah Wendel entsetzt an.
    Der stumme Vorwurf in den Augen des Freundes schmerzte Wendel – er las darin, dass Irmas Gemahl Wendels Verhalten verurteilte, weil er Melissa gut leiden konnte und ihr nichts Böses zutraute. Aber Lorentz wusste ja auch nicht, was Wendel wusste.
    Von Kastelruth setzte sich wieder und faltete die Hände. »Meister Füger, wir beide wissen, dass das nicht alles ist. Ich kenne die Wahrheit, wir können also offen sprechen.« Er seufzte. »Ich fürchte, es ist mein Versäumnis, dass das Kind verschwunden ist. Ich hätte es verhindern können.«
    Wendel spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Fassungslos starrte er den Ratsherrn an. Was wusste von Kastelruth? Und woher? »Ich fürchte, ich verstehe nicht …«, stammelte er.
    »Versprecht Ihr mir, dass Ihr besonnen bleibt und dem Rat das weitere Vorgehen überlasst? Ich versichere Euch, dass wir auf Eurer Seite stehen und alles tun werden, um …«, von Kastelruth stockte, verknotete seine Finger, entwirrte sie wieder, »… um Euch zu helfen. Habe ich Euer Wort?«
    Wendel lachte bitter auf. »Das könnt Ihr nicht von mir verlangen. Nicht, solange ich nicht weiß, worum es geht.«
    Lorentz’ Vater beugte sich zu Kastelruth. »Nun sag schon, was du weißt.« Er deutete auf Wendel. »Er wird schon nicht gleich eine Armee in Marsch setzen.«
    Der harmlose Scherz tat gut. Wendel konnte tatsächlich einen Wimpernschlag lang

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