Die Tränen der Henkerin
lächeln, bevor er wieder in dem Morast aus wirren Gedanken und Gefühlen versank, der ihn fast erstickte.
Von Kastelruth legte seine Hände flach auf den Tisch und blickte Wendel tief in die Augen. »Es ist Anklage erhoben worden gegen Melissa Füger – wegen Mordes an einem gewissen Merten de Willms.«
Der alte Weishausen zog scharf die Luft ein, Lorentz riss die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund.
Wendel ballte die Fäuste. »Wer? Wer hat Anklage erhoben?« Bevor von Kastelruth etwas erwidern konnte, beantwortete Wendel die Frage selbst: »Mein Vater. Erhard Füger!«
Von Kastelruth schloss kurz die Augen, Lorentz entfuhr ein entsetztes »Dein Vater? Das ist doch nicht möglich!«, der alte Weishausen schwieg, aber seine Züge verrieten, dass ihm jegliche Lust auf Scherze vergangen war.
Von Kastelruth räusperte sich. »Zudem soll sie unter falschem Namen leben. Angeblich hat es nie eine Melissa de Willms gegeben. Euer Vater hat mir ein entsprechendes Dokument vorgelegt.« Wieder spielte er nervös mit seinen Händen. »Natürlich habe ich Euren Vater fortgeschickt. Er hatte keine Zeugen, keine Beweise für seine Mordanschuldigungen. Lediglich das Dokument, das – nun ja, das gewisse Zweifel an Melissas Herkunft aufkommen lässt. Aufgrund eines solchen Schreibens lasse ich niemanden in den Kerker werfen. Doch nun, wo das Kind verschwunden ist und Ihr selbst, Meister Füger, den Verdacht hegt, es könne Eure Gemahlin dahinterstecken, stellt sich alles in neuem Licht dar. Wenn ich Eurem Vater doch nur geglaubt hätte! Dann hätte ich die Gefahr erkannt und die Entführung vielleicht verhindern können!«
Wendel dröhnte der Kopf. Er stand auf. »Und nun? Was glaubt Ihr nun? Haltet auch Ihr meine Gemahlin für eine Mörderin?«
Von Kastelruth erhob sich ebenfalls. »Wir werden sie suchen lassen. Sie allein kann alle Missverständnisse aufklären – sofern es sich um Missverständnisse handelt. Wir unterrichten alle Reichsstädte, ebenso Graf Ulrich. Eine Beschreibung von ihr und der kleinen Gertrud wird auf allen Marktplätzen, in allen Kirchen und in alle Schänken in Württemberg verlesen werden, sie wird uns nicht entkommen. Wenn sie gefasst ist, wird der Rat beim Schultheiß Anklage erheben wegen Menschenraubes und wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Mord.«
Wendel sah von Kastelruth an, dann den alten Weishausen und schließlich Lorentz, der weiß war wie ein Leichentuch. Er wusste nichts mehr. Er wusste nicht mehr, wer Melissa war, wer sein Vater war, wem er vertrauen konnte. Er wusste nicht, ob Melissa nicht vielleicht doch Merten de Willms getötet und seine Tochter entführt hatte. Alles war ihm fremd geworden, selbst sein eigener Name. »Ich habe nichts mehr zu sagen«, murmelte er tonlos. »Ich werde jetzt nach Hause gehen, und wenn es Neuigkeiten gibt, wisst Ihr, wo Ihr mich findet.« Er verneigte sich, und eine seltsame Leichtigkeit ergriff ihn, als er sich umdrehte und die Schreibstube verließ.
Wie ein Betrunkener taumelte er auf die Straße, wankte an den verdutzten Gesichtern vorbei, betrat sein Haus, ignorierte die Fragen, die auf ihn niederprasselten, und stieg in den Weinkeller hinab. Er verrammelte die Tür von innen, füllte einen Becher kräftigen Falerners ab, leerte ihn, füllte nach, trank auch den zweiten Becher in einem Zug leer. Wieder und wieder leerte er den Becher, bis er nicht mehr schlucken konnte und kraftlos zu Boden sank. Noch bevor er aufschlug, umfing ihn gnädige Schwärze.
***
Es hatte Melisande den ganzen Tag gekostet, alles zu besorgen, was sie brauchte, ohne unnötig viel Aufsehen zu erregen. Die letzte Kleinigkeit hatte sie erst bei einem Bauern eine halbe Meile außerhalb von Sulz ausfindig gemacht. Immerhin war sie so beschäftigt gewesen, dass sie keine Zeit gehabt hatte zu grübeln. Nun eilte sie mit ihrem prall gefüllten Beutel auf das Stadttor zu. Der eisige Wind, der sie am Morgen geweckt hatte, blies mit unverminderter Stärke. Es dämmerte bereits wieder, die dritte einsame Nacht erwartete sie.
Melisande beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht war ja im Laufe des Nachmittags ein Brief von Irma eingetroffen. Irgendetwas musste sie doch zu berichten haben, und wenn sie nur schrieb, dass es allen gutging. Ihretwegen konnte sie auch den Klatsch und Tratsch aus der Stadt erzählen, davon gab es immer genug. Erst vorhin auf dem Markt hatte eine Bäuerin erzählt, in Rottweil herrsche großer Aufruhr, weil ein Kind entführt worden sei.
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