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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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nie!«
    Nicklas sprang auf die Beine. Unbändige Wut blitzte in seinen Augen.
    Othilia taumelte zwei Schritte zurück, setzte an, nach den Wachen zu rufen, aber bevor sie auch nur ein Wort herausbringen konnte, hatte Nicklas sich umgedreht und war verschwunden.
***
    Über Nacht hatte sich der Wind gelegt, weißer Nebel hing in den Gassen von Sulz, als Melisande sich in aller Frühe erhob. Sie hatte kaum geschlafen, immer wieder hatten sich die Worte des Briefs in ihre wirren Träume geschlichen, hatten sich in kleine blutrote Teufelchen verwandelt, die ihr höhnisch lachend ins Gesicht sprangen. Ihr Gegner hatte sich ihr nicht zu erkennen gegeben, dennoch war sie jetzt sicher, mit wem sie es zu tun hatte. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie musste nach Esslingen, und zwar noch heute. Die Vorstellung, dass sich ihre Tochter, ihre wunderbare, zauberhafte Gertrud, in den Klauen dieses Monsters befand, war mehr, als sie ertragen konnte.
    Melisande nahm ihr Bündel und ein Schreiben, das sie in aller Eile verfasst hatte, und stieg die Treppe hinunter in den Schankraum. Nur wenige Gäste hatten die Nacht in der Herberge verbracht; sie alle schliefen noch, und der Raum war erfüllt von lautem Schnarchen und den Ausdünstungen der Männer. Vom Hof her hörte sie Stimmen, offenbar schalt der Wirt gerade eine der Mägde. Rasch stieß Melisande die Hintertür auf und trat hinaus in die Morgendämmerung.
    Als der Wirt sie erblickte, zog er verwirrt die Brauen zusammen. »So früh schon auf den Beinen?«
    Melisande schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie schluchzte auf, und es fiel ihr nicht einmal schwer. Niemals zuvor, nicht einmal in den dunkelsten Stunden ihres Lebens, war sie in einer solch verzweifelten Lage gewesen. »Mein … mein Mann ist schwer erkrankt«, stammelte sie. »Es steht schlecht um ihn. Er kann nicht kommen, um mich abzuholen, und ich weiß nicht, wie ich zu ihm gelangen soll.«
    Der Wirt knetete seine Finger. »Das ist ja furchtbar«, brummte er, sichtlich bemüht, so zu klingen, als ginge ihm das wirklich ans Herz. »Ich würde Euch ja gerne Geleit geben, aber ich bin nicht abkömmlich, das versteht Ihr doch sicherlich? Und ich kann auch keinen meiner Knechte entbehren. Wenn ich Euch jedoch ansonsten irgendwie helfen kann, sagt es frei heraus.«
    Melisande holte tief Luft. »Verkauft mir ein Pferd. Dann reite ich allein.«
    Der Wirt war ein schlechter Schauspieler, selbst ein Kind hätte sein Erschrecken besser vortäuschen können. In Wirklichkeit schien er erleichtert zu sein, dass er das unbequeme Weib bald los war. Er hob die Hände. »Aber das könnt Ihr nicht tun! Ihr seid verloren, eine Frau wie Ihr, ohne jede Begleitung.«
    »Hier bin ich genauso verloren. Gott wird seine schützende Hand über mich halten, und mit seiner Hilfe werde ich meinen Gemahl erreichen, bevor er abberufen wird.« Noch einmal schluchzte Melisande auf.
    »Na gut, ich verkaufe Euch ein Pferd, ein hervorragendes noch dazu. Es hat zwar seinen Preis, aber wie könnte ich Euch eine billige Schindmäre geben, wo Ihr doch auf ein zuverlässiges Tier angewiesen seid, das zudem schneller als alle anderen Pferde ist, die man Euch anbieten könnte?« Die Augen des Wirts blitzten verschlagen.
    Melisande sah ihn forschend an. Je vollmundiger die Anpreisungen des Verkäufers waren, desto schlechter war die Ware üblicherweise. Bestimmt hatte das Tier, das der Mann ihr nun andrehen wollte, noch bis eben auf der Speisekarte gestanden. Doch sie konnte sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. »Was soll es denn kosten?«
    »Mit Zaumzeug und Sattel muss ich vier Pfund Silber dafür nehmen.«
    Melisande zog erschrocken die Luft ein. Das war deutlich mehr, als sie erwartet hatte, und deutlich mehr, als sie mit sich führte. »Nun, dann zeigt mir dieses Wundertier, das so viel kostet wie das Paradepferd des Königs«, sagte sie ergeben.
    Der Wirt verneigte sich. »Glaubt mir, Ihr werdet es nicht bereuen. Auch wenn es nicht so aussieht – es kann dreißig Meilen galoppieren, ohne müde zu werden.«
    Melisande glaubte dem Wirt vor allem, dass er gute Geschichten erfinden konnte, um seine Kunden über den Tisch zu ziehen, aber sie folgte ihm dennoch in den Stall. In einer Ecke stand eine zierliche, zerbrechlich wirkende weiße Stute. Melisande erkannte auf den ersten Blick, dass das Tier gepflegt war, und trotz der zarten Glieder kräftige Muskeln und einen wachen Blick besaß. Es war ohne Zweifel den Preis wert, den der Wirt verlangte. Doch so

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