Die Tränen der Henkerin
Gesetz eine Stellung anstrebten, die ihnen nicht gebührte. Opfer von Bastarden, die gnadenlos alle Hindernisse aus dem Weg räumten und auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckten. Othilia presste die Lippen zusammen. Sie würde zu verhindern wissen, dass ihr oder ihrem Sohn etwas Derartiges zustieß. Aber sie musste dabei behutsam vorgehen. Ihr Lehnsherr, Graf Ulrich III., liebte es nicht, wenn auf seinen Burgen Menschen zu Tode kamen, in deren Adern adliges Blut floss, selbst wenn es Bastarde waren.
Plötzlich stockte Othilia der Atem. Mit einer schnellen Bewegung hatte Nicklas etwas aus seinem Wams gezogen, einen länglichen Gegenstand, der metallisch glänzte. Dieser feige Verräter!
»Nicklas!« Ihre Stimme schoss wie ein Pfeil vom Turm. Nur seinen Namen rief sie, doch ihr Schrei verfehlte nicht seine Wirkung. Er hielt in seiner Bewegung inne, schaute zu ihr hoch, senkte den Kopf und beugte das Knie.
»Was hast du da in der Hand?«, brüllte sie.
Nicklas erhob sich, trat einen Schritt zurück und hielt es hoch. »Ein Geschenk für Ottmar, Herrin!«, rief er. Seine Stimme klang völlig unschuldig und gelassen.
Sie lachte auf. Es klang schrill, selbst in ihren eigenen Ohren. Ein Geschenk! Dieser Bastard schreckte vor keiner Dreistigkeit zurück. Sie beugte sich weiter vor, versuchte, den Gegenstand zu erkennen. Er war lang und spitz. Voller Zacken, scharfer Zacken. Was für eine furchtbare Waffe! »Bring mir das Ding. Sofort!« Othilias Stimme überschlug sich.
»Sehr wohl, Herrin!« Nicklas rannte los, als würde er vom Leibhaftigen verfolgt. Wenige Augenblicke später erschien er schwer atmend auf dem Turm. Er hielt ihr das Ding entgegen, und jetzt erkannte sie, was es war: ein kleiner Drache mit gezacktem Rücken, aufgesperrten Maul und einer Flamme, die aus seinem Rachen loderte.
»Er soll doch eines Tages ein mutiger Ritter werden, der keine Angst vor Drachen hat«, sagte Nicklas und kniete vor ihr nieder.
Othilia nahm ihm das Figürchen aus der ausgestreckten Hand. Er war aus Holz geschnitzt und glänzte metallisch, weil es geölt war.
»Welches Holz hast du verwendet? Sprich, oder willst du dich mir widersetzen?«
Nicklas hielt den Kopf gesenkt. »Kirsche, Herrin.«
»Und das Öl? Willst du Ottmar vergiften?«
Nicklas senkte den Kopf noch ein Stück tiefer. »Es ist Leinöl, Herrin. Gut verdaulich, gerade für Ottmar, der doch immer unter Blähungen und Schmerzen im Unterleib leidet.«
Othilia stieg die Hitze ins Gesicht. »Bist du seit Neuestem der Medicus, du unverschämter Bursche?« Sie warf den Drachen auf den Boden und stampfte mit den Füßen darauf herum, bis der Feuerstrahl abbrach. Selbst mit einem solchen als Spielzeug getarnten Holzdolch konnte man ein Kleinkind umbringen. Vor allem, wenn der Dolch aus Kirschholz gefertigt war, das fast so hart war wie Stahl. Dass Nicklas zu dieser List gegriffen hatte, die Mordwaffe als Geschenk getarnt hatte, machte ihn doppelt gefährlich. Wie hatte sie nur so lange die Augen vor dieser Gefahr verschließen können, die ihr in ihrer eigenen Burg drohte?
»Du hattest kein Recht, dich meinem Sohn zu nähern«, sagte sie bemüht ruhig.
Nicklas gab keinen Laut von sich. Er kniete noch immer mit gesenktem Kopf vor ihr, hatte nicht einmal gezuckt, als sie den Drachen unschädlich gemacht hatte.
Othilia sah ihn von oben an. Am liebsten hätte sie den Kerl wegen versuchten Mordes in den Kerker geworfen, aber dieser Schlappschwanz von Ulrich würde ihn niemals verurteilen und stattdessen womöglich auch noch sie selbst für ihr übereiltes Handeln zur Rechenschaft ziehen. Schließlich hatte Nicklas dem Jungen ja nur ein Spielzeug schenken wollen. Von wegen! Othilia zog verächtlich die Augenbrauen in die Höhe. Sie wusste es besser. Dieser Bastard war gefährlich. Und das Schlimmste war: Er brauchte nicht einmal eine Waffe, konnte den kleinen Ottmar mit seinen bloßen Pranken zerreißen wie eine Stoffpuppe. Er durfte ihrem Sohn nie wieder zu nahe kommen.
Sie verschränkte die Arme. »Ab heute wirst du dich von Ottmar fernhalten. Wenn du ihn auch nur ansiehst, lasse ich dich in den Kerker werfen.«
Nicklas zuckte zusammen, hob vorsichtig den Kopf. »Aber Herrin, er ist mein Bruder, warum …«
»Schweig, du Missgeburt!« Othilia beugte sich zu ihm hinunter und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Wage es nie wieder, Ottmar deinen Bruder zu nennen! Du bist nichts! Du bist aus dem Schoß irgendeiner Hure gekrochen. Vergiss das
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