Die Tränen der Henkerin
ihm gar nicht ähnlich. Ihr Vater hatte sich nie um sie geschert, nicht einmal als ihr Gemahl im Kerker saß und vor dem Richtschwert zitterte. Vielleicht war er ja auf seine alten Tage sanftmütiger geworden. Othilia fegte die sentimentalen Gedanken mit einer unwirschen Handbewegung fort. Fehlte noch, dass auch sie anfing, weich zu werden!
Alberto Fussili hatte vor zwei Tagen unangemeldet an das Burgtor geklopft und um ihre Gastfreundschaft gebeten, da er der alten Amme Emelin einen Besuch abstatten wolle. Zudem hatte er behauptet, der Alte von Hohenfels habe ihm aufgetragen, nach seiner Tochter zu sehen, da sie ohne Gemahl dastand und die Geschäfte der Burg allein verwalten musste. Nach all der Zeit! Was glaubte er denn, wie sie in den letzten zwei Jahren zurechgekommen war? Othilia konnte sich nicht daran entsinnen, den Geistlichen je gesehen zu haben, doch sie erinnerte sich dunkel, dass der Name des Mannes in ihrer Kindheit öfter gefallen war. Fussili hatte sie mit seiner Besonnenheit und seinen klugen Reden sogleich tief beeindruckt, und es konnte sicherlich nicht schaden, einen Mönch als Berater zu haben. Sie würde Fussili sofort rufen lassen und seine Meinung zu ihren Kopfschmerzen einholen. Bestimmt kannte er ein Kraut, das Abhilfe schaffte.
Vorsichtig lehnte sie sich ein wenig über die Brüstung des Turmes. Sie traute dem Gemäuer nicht. Erst kürzlich war ihr aufgefallen, dass einige der Steine lose waren. Sie hatte sofort Ausbesserungsarbeiten in Auftrag gegeben, die jedoch ins Stocken geraten waren, da man auf die Lieferung des Mörtels warten musste. In der Zwischenzeit war das fehlende Stück Mauer notdürftig durch ein hölzernes Geländer ersetzt worden. Sie kniff die Augen zusammen. Der Mönch spazierte viel im Burghof umher, möglich, dass sie ihn von hier oben erspähte. Bei den Ställen war er nicht zu sehen, auch auf dem Vorplatz der Burg konnte sie keine Spur von ihm entdecken.
Sie ging zur anderen Seite des Turmes, die ihr den Blick auf den Garten ermöglichte. Fussili war auch hier nicht zu sehen, doch dafür erblickte sie etwas anderes. Die Amme trug den kleinen Ottmar spazieren, der offensichtlich eifrig vor sich hinbrabbelte und mit seinen kleinen Ärmchen wedelte.
Ein Lächeln stahl sich auf Othilias Gesicht, das Klopfen hinter ihren Schläfen ließ nach. Der kleine Ottmar war das Beste, das sie je besessen hatte. Mit ihm hatte de Bruce ihr die Macht über die Adlerburg vermacht. Gäbe es den Kleinen nicht, da war Othilia sich sicher, hätte Ulrich ihr die Burg längst genommen. Durch das Kind aber gab es einen legitimen Erben, einen Sohn, der eines Tages das Lehen übernehmen würde. Und bis dahin war sie die Herrin der Burg.
Othilia kniff die Augen zusammen. Wo war Fussili? In der Kapelle? Wahrscheinlich. Sie seufzte. Sie würde also wieder in die Niederungen der Burg hinuntersteigen müssen. Bevor sie sich jedoch ganz abgewandt hatte, sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Garten, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ein junger Bursche war zu der Amme und dem kleinen Ottmar getreten. Obwohl er das Gesicht abgewandt hatte, erkannte sie ihn sofort. Stark und wohlgebaut wie sein Vater war er, das war nicht zu übersehen. Doch Othilia war jede Faser seines Körpers ein Dorn im Auge. Nicklas, der Waffenschmied, Bastard von Ottmar de Bruce, war der einzige Mensch auf der Burg, den sie nicht einzuschätzen vermochte. Und sie hasste es, wenn sie nicht wusste, woran sie bei jemandem war. Vor allem, wenn dieser Jemand ihr gefährlich werden konnte. Bisher hatte Ottmar seine schützende Hand über den Burschen gehalten, jetzt gab es eigentlich keinen Grund mehr, ihn noch länger auf der Burg zu dulden. Sie konnte ihn auf der Stelle fortschicken. Allerdings würde sie ihn sich damit zum Feind machen. Zu einem Feind, der hinter ihrem Rücken in aller Ruhe Anhänger um sich scharen und gegen sie marschieren konnte. Hier auf der Burg hingegen hatte sie ihn unter Kontrolle.
Als Nicklas vor der Amme und Ottmar stehen blieb, beschleunigte sich Othilias Herzschlag, ihre Finger krallten sich in das Mauerwerk der Brüstung. Wenn dem kleinen Ottmar etwas zustieß, konnte Nicklas durchaus die Nachfolge seines Vaters einfordern. Er wäre nicht der erste und nicht der letzte Bastard, der eine Position einnahm, die ihm nicht zustand. So manche Grafenwitwe war mitsamt ihrer männlichen Nachkommen Opfer von unehelichen Söhnen geworden, die in völliger Verkennung von Gottes Recht und
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