Die Tränen der Henkerin
sich die Stiefel über.
An der Theke zog Melisande ihren Beutel hervor und zählte die Münzen ab. So viel Geld für ein Pferd! Aber Saphira war jeden Heller wert. Nicht nur, weil sie galoppierte wie der Wind, sondern auch, weil sie wie Melisande selbst war: verletzt und doch voller Lebenskraft.
Der Wirt zählte das Geld nach und nickte zufrieden. »Wartet einen Augenblick.« Er verschwand hinter der Theke und hielt ihr kurz darauf einen Beutel entgegen. »Hier, nehmt das für Eure Reise. Ein wenig Brot und Käse. Ihr werdet es brauchen.«
»Habt Dank!« Melisande griff nach ihrem Bündel, das noch immer an der Theke lehnte, und wandte sich zur Tür. Dabei fiel ihr Blick auf einen Tisch in der Ecke. Ihr stockte der Atem. Dort saßen einige Bewaffnete, deren Tracht sie als württembergische Boten auswies. Wussten die Männer schon, dass nach einer rothaarigen Frau gesucht wurde? Waren sie vielleicht sogar ihretwegen hier? Nur mit Mühe unterdrückte Melisande den Drang, einfach fortzurennen. Die Männer grüßten freundlich. Also wussten sie noch nichts. Erleichtert atmete sie auf. Aus einer Bemerkung schloss sie, dass die Bewaffneten nach Rottweil unterwegs waren. Was für ein Glück!
Zögernd trat sie an den Tisch. »Verzeiht.«
Die Männer musterten sie. »Können wir Euch helfen, junge Frau?«, fragte einer, der offenbar der Wortführer war.
»Ich habe gehört, dass Ihr nach Rottweil reist. Wärt Ihr so gütig, einen Brief mitzunehmen und ihn einer Freundin auszuhändigen? Ihr Name ist Irma Weishausen und sie ist die Gemahlin des Ratsherrn Lorentz Weishausen. Selbstverständlich bezahle ich Euch für die Umstände.«
Der Mann grinste und entblößte eine Zahnlücke. »Es ist uns eine Ehre, einer Frau in Not beizustehen. Euer Brief wird seine Empfängerin sicher erreichen.« Er streckte eine schmutzige Hand aus. Melisande zögerte kurz, dann reichte sie ihm das Schreiben und ein paar Heller, bedankte sich noch einmal und verließ die Gaststube.
Kurz bevor das Stadttor in Sicht kam, wurden die Gebäude links und rechts der Straße spärlicher, Äcker und Weiden breiteten sich zwischen den Häusern aus. Gestern hatte Melisande eine Scheune entdeckt, deren Tür nicht verriegelt war. Sie saß ab, führte Saphira die letzten Schritte am Zügel. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, zog Melisande vorsichtig die Tür auf und spähte hinein. Heu und Stroh lagen herum, sonst war der Raum leer. Rasch schob sie Saphira ins Innere und schlüpfte hinterher. Es war Zeit, sich zu verwandeln. Ab hier würde Melisande als Mann weiterreisen, nur so war sie sicher vor Entdeckung. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich herumsprach, dass eine junge Mutter wegen Entführung und Mordes gesucht wurde. Vielleicht hatten die Wachen an den Stadttoren sogar schon Order, nach einer rothaarigen Frau Ausschau zu halten.
Ohne zu zögern, zog Melisande sich aus, schnürte sich die Brust ein und legte Beinlinge, Surcot und Wams an. Dann nahm sie ihr Messer und schnitt ihr Haar auf Kinnlänge zurück. Zum Schluss rieb sie sich den Sud in die Haare, den sie in ihrer Kammer aus den Nussschalen bereitet hatte, die sie am Vortag bei dem Bauern besorgt hatte. Er überdeckte das Rot der Haare und verlieh ihnen eine tiefbraune Färbung.
Als die Verwandlung vollzogen war, machte Melisande ein paar Schritte und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin Raimund Halverson aus Hamburg, Feldscher ist mein Gewerbe«, sagte sie mit verstellter Stimme. »Und wer glaubt, sich über meine helle Stimme lustig machen zu müssen, dem gebe ich gerne mein Schwert zu schmecken.«
Es war ein seltsames Gefühl, wieder Männerkleider zu tragen. Erschreckend und vertraut zugleich. Wie eine zweite Haut, von der sie geglaubt hatte, sie hätte sie für immer abgestreift. Melisande seufzte. Mochte Gott geben, dass ihr Unternehmen gelang!
Saphira stupste sie sanft an. Melisande drehte sich zu ihr um und streichelte ihr die weichen Lippen. »Wie gut, dass Menschen nicht so feinsinnig sind wie Pferde«, flüsterte sie. »Du würdest nie auf meine alberne Verkleidung hereinfallen und mich für einen Mann halten.« Sie bückte sich, um ihre alten Kleider und die übrigen Habseligkeiten wieder zusammenzupacken. Auch das abgeschnittene Haar nahm sie mit. Sie durfte keine Spuren zurücklassen.
Unbemerkt verließ sie die Scheune, saß auf, setzte eine wichtige Miene auf und ritt auf das Stadttor zu. Inzwischen hatte es geöffnet und
Weitere Kostenlose Bücher