Die Tränen der Henkerin
Dutzende von Händlern kamen ihr entgegen, ihre Waren auf Karren vor sich herschiebend oder einfach auf den Rücken geschnallt. Als Melisande näher kam bemerkte sie, dass die Zahl der Wachen seit gestern verdoppelt worden war. Die Männer durchsuchten alle Wagen, die hinein- und hinauswollten, und griffen den Frauen unter die Hauben, um ihre Haare zu begutachten.
Melisande packte die Zügel fester. Sie hatte sich keinen Augenblick zu früh verwandelt. Melissa Füger wurde nun auch in Sulz gesucht. Was für ein Glück, dass die Württemberger Boten noch ahnungslos gewesen waren! Der Tag schien unter einem guten Omen zu stehen.
»Werter Herr, auf ein Wort.« Einer der Männer wandte sich ihr zu und hob die Hand.
Melisande nickte und hielt Saphira an.
»Wir suchen eine Mörderin. Eine junge Frau mit langen roten Haaren. Sie ist aus Rottweil geflohen und hält sich vermutlich irgendwo hier in der Gegend versteckt. Habt Ihr ein Weib gesehen, auf das diese Beschreibung passt?«
Melisande kniff die Augen zusammen, als würde sie nachdenken. Sie rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf.
»Dann wünsche ich Euch eine gute Reise, Herr.« Der Wächter trat zur Seite und winkte Melisande durch.
Sie musste sich beherrschen, um Saphira nicht die Fersen in die Seite zu stoßen, damit sie sie so schnell wie möglich von hier wegbrachte. Fast eine halbe Meile ließ sie die Stute im Schritt gehen. Dann erst erlaubte sie Saphira, in einen weichen Galopp zu fallen.
***
Das Dröhnen wurde immer lauter. Es klang, als wolle jemand das ganze Haus einreißen. Waren die Württemberger über die Stadt hergefallen? Suchte Graf Ulrich den Betrüger?
Wendel rollte sich stöhnend auf die Seite, sein Kopf schien größer zu sein als die Fässer, zwischen denen er lag. Wieder donnerte es, er hielt sich die Ohren zu und nahm gleichzeitig einen üblen Geruch wahr. Säuerlich stank es, so als hätte sich jemand auf den Boden erbrochen. Was für eine Schweinerei! Die Knechte mussten unbedingt sauber machen, in einem Weinkeller durfte es nach nichts anderem riechen als nach Holzfässern und Wein. Ein solcher Gestank war schlecht fürs Geschäft.
Wieder krachte von irgendwoher ein Donnerschlag. Wendel fuhr hoch. Verdammt! Was hatte das zu bedeuten? Einen Augenblick lang schaute er sich verwirrt um. Dann kam die Erinnerung zurück, kalt und unerbittlich. Er selbst hatte sich erbrochen. Er selbst hatte seinen eigenen Weinkeller als Abort benutzt. Wie lange hockte er schon hier in der Dunkelheit?
Plötzlich hörte er eine Stimme. Seine Mutter, kein Zweifel. Sie rief etwas, doch er verstand ihre Worte nicht. Als sie verstummte, donnerte es wieder an der Tür. Jeder Schlag fuhr Wendel in den schmerzenden Schädel. Mühsam rappelte er sich auf, versuchte, auf die Beine zu kommen. Doch er scheiterte kläglich und plumpste wie ein Kleinkind auf sein Gesäß. Auf allen vieren kroch er zur Tür. »Schon gut, ich komme!«, wollte er rufen, aber er brachte nichts als ein Krächzen heraus. Ächzend zog er sich am Knauf hoch, entriegelte die Tür. Als sie sich öffnete, stürzte er ins Leere.
Antonius fing ihn auf. »Zum Teufel, Herr, Ihr seht aus, als wärt Ihr aus dem Totenreich zurückgekehrt!«
»Wendel!« Katherinas Stimme klang schrill. »Wendel Füger, was ist denn in dich gefahren? Glaubst du, dass du mit Wein deine Sorgen wegspülen kannst? Bist du denn kein Mann? Willst du, dass die ganze Stadt über dich spottet?« Sie packte seinen Oberarm. »Kannst du mich überhaupt hören?«
Wendel nickte, was seinen Kopf beinahe bersten ließ. Er konnte seine Mutter nicht nur hören, nein, er verstand sogar den Sinn ihrer Worte. Doch das wollte er nicht, er wollte nichts hören, wollte sich nicht an das erinnern, was geschehen war. Zurück in den Keller, dachte er, zurück zu meinem Wein, damit ich vergessen kann. Da zuckte Gertruds Gesicht durch seine Gedanken. Seine kleine Tochter, sie brauchte ihn doch! Er musste sie finden, niemand sonst konnte das tun! Wie lange hatte er sich in dem Keller vergraben? Was war in der Zwischenzeit geschehen? Er stöhnte. Seine Mutter hatte Recht. Er war ein jämmerlicher Weichling. Seine Familie war in Not, und statt ihr zu helfen verkroch er sich und soff sich den Verstand aus dem Kopf. Er versuchte, sich von Antonius frei zu machen, doch der hielt ihn eisern fest. »Lass mich los! Ich habe genug Zeit vergeudet! Ich muss Gertrud suchen!«
»Gut, dass du das endlich einsiehst«, sagte Katherina. »Es besteht also
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