Die Tränen der Henkerin
herauskommen. Ich würde so gern helfen, aber ich weiß nicht, wie. Liebste Freundin, was immer ich für dich tun kann, werde ich tun. Sei vorsichtig!
Auf bald. Deine treue Freundin Irma.«
Die Tränen liefen nun ungehemmt über Melisandes Gesicht. Sie zerriss das Pergament, streute die Fetzen in den Sturm, der sie gierig griff und davontrug. Aus dem Ärmel ihres Gewandes zog sie das rote Tuch hervor, das sie aus Rottweil mitgenommen hatte, und presste es an ihre Wange. Der Stoff duftete nach der kleinen Gertrud.
Melisande sog den Duft ein. Eine unheimliche Ruhe kam über sie. Wehe dem, der meine Tochter entführt hat, dachte sie. Er wird bald merken, dass er sich mit der Falschen angelegt hat. Und wie sie es vor vielen Jahren getan hatte, kniete sie nieder und legte einen Eid ab. »Ich, Melisande Wilhelmis«, sprach sie mit leiser, aber fester Stimme, »schwöre bei meiner unsterblichen Seele und bei der unsterblichen Seele meiner ermordeten Eltern und Geschwister, dass ich meine Tochter Gertrud finden und ihren Entführer seiner gerechten Strafe zuführen werde.«
Gierig sog sie den kalten Wind in ihre Lungen, bis sie brannten. Aus welchem Grund auch immer Gott ihr diese Prüfungen auferlegte, sie würde stark sein und um ihre Familie kämpfen. Sie schlug ein Kreuz, dann erhob sie sich und ging zurück ins Haus. Neben der Hintertür lag noch der Beutel mit ihren Einkäufen. Nun würde sie sie früher benötigen, als sie gedacht hatte.
Sie stieg die Stufen zu der Kammer hinauf. Eine Nacht noch durfte sie es sich erlauben, in einem warmen Bett zu schlafen, doch am Morgen würde sie aufbrechen, sobald die Stadttore sich öffneten. Gebe Gott, dass bis dahin kein Bote aus Rottweil hier eintrifft!
Sie wollte sich auf ihr Lager fallen lassen, aber im letzten Moment erkannte sie, dass etwas darauf lag. Eine Pergamentrolle. Noch eine Nachricht aus Rottweil? Von Wendel? Ihr Herz klopfte schneller, bis sie sich daran erinnerte, was Irma geschrieben hatte: Wendel hockte wie ein verängstigtes Tier im Weinkeller und kam nicht heraus.
Wütend ballte sie die Faust. Verhielt sich so ein Vater, dessen Kind entführt worden war? Wollte er so seiner Tochter helfen?
Sie stellte sich ans Fenster, um besseres Licht zu haben, erbrach das Siegel und entrollte das Pergament. Während sie die Worte überflog, schien der Boden unter ihren Füßen sich in Melasse zu verwandeln, in der sie langsam versank.
D IE
R ÜCKKEHR
Der scharfe Nordwind hatte sich gelegt, die Fahne, die das Wappen der Adlerburg trug, hing schlaff vom Mast herunter. Othilia betrachtete das Stück Stoff nachdenklich, dann schaute sie nach unten. Sie liebte es, auf dem Turm zu stehen. Von hier aus konnte sie ihren gesamten Besitz überblicken. Doch heute wollte sich die Befriedigung, die ihr der Anblick gewöhnlich verschaffte, nicht einstellen. Unruhig suchte sie den Horizont ab, wo die Baumkronen im schwindenden Licht mit dem Himmel verschwammen. Wo blieb von Säckingen? Hatte er seinen Auftrag ausgeführt, oder war er etwa mit ihrer Todfeindin durchgebrannt?
»Nein, niemals!«, rief sie und stieß eine Faust in die Luft.
Das würde er nicht wagen! Er war nicht dumm, er wusste, dass ihre Rache ihn früher oder später treffen würde, wenn er sie betrog. Bis jetzt war er ihr immer treu ergeben gewesen – und sicherlich nicht nur, weil sie das Lager teilten. Ehrgefühl, Glaube und Angst hielten sich bei ihm die Waage, sorgten dafür, dass er tat, was sie ihm befahl. Ganz wie es sich für einen Ritter geziemte. Trotzdem war er eine schwelende Gefahr. Er war ihr Komplize, ihr verlängerter Arm, und wenn er es wollte, konnte er sie mit seinem Wissen ans Messer liefern. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, würde sie entscheiden müssen, was mit ihm geschehen sollte.
Mit den Zeigefingern rieb Othilia sich die Schläfen. Seit einiger Zeit wurde sie fast täglich von einem Pochen in ihrem Schädel heimgesucht. Es war nicht schmerzhaft, eher lästig wie eine Fliege, die nicht aufhörte, einen zu umschwirren, doch es zehrte an ihren Kräften. Nur wenn sie mehr Wein trank, als ihr Durst forderte, ließ das Pochen nach. Aber sie konnte nicht ständig halb betrunken herumlaufen. Außerdem brauchte sie jedes Mal mehr Wein, um das Pochen zu besänftigen. Sie seufzte. Vielleicht konnte Fussili ihr ja helfen. Der Mann schien über endloses Wissen zu verfügen. Was für eine kluge Eingebung ihres Vaters, ihr diesen alten Freund der Familie als Beistand zu schicken! Dabei sah es
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