Die Tränen der Henkerin
Menschenseele war, und doch lähmte eine beinahe unbezwingbare Furcht ihre Glieder. Das Herz schien ihr aus der Brust springen zu wollen. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Jeden Moment konnten Bewaffnete sie aus dem Gebüsch heraus angreifen, konnte ein Pfeil aus dem Unterholz heransirren und sie aus dem Sattel reißen.
Als sie diesen Weg das letzte Mal beschritten hatte, war ihre Familie kurz zuvor ermordet worden und sie selbst hatte nur überlebt, weil der Henker von Esslingen sie gerettet hatte. Hierher war er mit ihr geflüchtet und hatte sie in einer Höhle versteckt. Viele Jahre waren vergangen, Melisande war seit jenem Tag nie wieder hier gewesen. Sie hatte die Gegend gemieden, die so viele schreckliche Erinnerungen barg. Nun würde sie das Versteck noch einmal nutzen, um für die Nacht ein sicheres Lager zu haben, bevor sie am kommenden Morgen die Stadt betrat. Heute war es zu spät, zudem war sie völlig erschöpft von dem langen Ritt, ganz im Gegensatz zu Saphira, die so leichtfüßig lief, als seien sie eben erst aufgebrochen.
Melisande näherte sich dem Talschluss, die Felsen waren noch genauso unbewachsen und schroff wie damals, nichts schien sich verändert zu haben. Sie saß ab, führte Saphira am Zügel. Die Stute war vollkommen ruhig, so als spürte sie Melisandes Beklemmung und wollte ihr Trost und Zuversicht spenden.
An einem Felsbrocken blieb Melisande einen Moment lang stehen, betrachtete das nackte Gestein, schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie hob die Hand, strich über den rauen Stein. Das musste er sein. Hier musste der Eingang zur Höhle liegen. Damals war alles so schnell gegangen, doch auch jetzt, wo sie die Stelle in Ruhe betrachten konnte, fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. Der Fels sah aus, als sei er ein unverrückbarer Teil des Steilhanges.
Melisande bückte sich, um ein wenig Erde beiseitezukratzen, die sich am Fuß des Felsens gesammelt hatte, dann tastete sie nach dem Riegel. Langsam fuhr sie mit den Fingern die Kante ab, bis sie auf etwas Hartes stieß. Sie hatte ihn gefunden! Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie die Verriegelung und rollte den Felsklotz ohne Mühe zur Seite. Sie lauschte. Die Geräusche des Waldes hatten sich nicht verändert. Sie atmete auf, beugte sich vor und spähte in die Finsternis.
»Auf geht’s.« Sie drehte sich zu Saphira um, die die Ohren angelegt hatte. Das dunkle Loch behagte der Stute offenbar ganz und gar nicht. »Komm mit, hab keine Angst. Da drinnen sind wir in Sicherheit.« Melisande streichelte der Stute über die Nüstern, nahm sie an den Zügeln und führte sie ohne Zögern in die Höhle. Zu ihrer Erleichterung folgte Saphira ihr widerstandslos. Sie hätte die Stute nicht draußen zurücklassen können, wo sie leichte Beute für wilde Tiere gewesen wäre.
Melisandes Herz klopfte wild, als sie weiter in die Höhle vordrang. Im Dämmerlicht erkannte sie, dass die Fackel noch an ihrem Platz war, ebenso der Feuerstein. Schnell loderte die Flamme auf. Saphira schnaubte nervös, blieb aber ruhig, weil auch Melisande ruhig blieb.
Melisande verschloss den Eingang. Jetzt waren sie sicher im Bauch des Berges. Sie zog Saphira an den Zügeln durch den Gang in den Hauptraum der Höhle. Die Strohmatratze, die Wassertonne, die Feuerstelle … Auf den ersten Blick schien alles intakt zu sein, sah aus, als wäre sie eben erst fortgegangen. Fast meinte sie, das zu Tode verängstigte dreizehnjährige Mädchen vor sich zu sehen, das vor Jahren vor dem Lager gekniet und für seine Familie gebetet hatte, die der Teufel Ottmar de Bruce wenige Stunden zuvor abgeschlachtet hatte.
Melisande schüttelte den Kopf, als könne sie die quälenden Erinnerungen damit vertreiben. Sie durfte jetzt nicht daran denken, es gab Wichtigeres, um das sie sich kümmern musste. Langsam schritt sie die Höhle ab. Das Fass war im Laufe der Jahre undicht geworden, sein Inhalt hatte sich in Erde verwandelt. Wenn sie die Fackel bewegte, huschten kleine Tiere zur Seite, sobald sie in den Lichtkegel gerieten. Sie lauschte. Ein leises Plätschern. Zumindest war die Quelle nicht versiegt.
»Komm mit.« Sie führte Saphira zum Wasser, und sogleich begann die Stute gierig zu saufen.
Melisande trank ebenfalls. Es war gut zu wissen, dass es diesen Ort gab. Falls es notwendig werden sollte, konnte sie sich hier verstecken, vielleicht sogar mit Gertrud. Am liebsten wäre sie aus der Höhle gerannt und sofort nach Esslingen aufgebrochen. Doch das wäre
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