Die Tränen der Henkerin
unvernünftig. Wenn sie Gertrud retten wollte, musste sie besonnen vorgehen. Der Entführer hatte ihr eine Frist bis zum nächsten Vollmond gesetzt. Bis dahin würde er Gertrud nichts antun. Zumindest hoffte sie das.
***
Erhard Füger kaute auf seiner Unterlippe herum. Nichts hatte er in der Hand, gar nichts. Mit hängenden Köpfen standen die Männer vor ihm. Sie hatten versagt. Weder hatten sie Melissa gefunden, noch hatten sie auch nur den Hauch einer Spur von ihr entdeckt. Ein Mensch konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen! »Meister Oswald, zahlt die Männer aus, und dann fort mit ihnen!«, befahl er barsch.
Oswald zog einen Beutel hervor und nahm einige Münzen heraus. Schweigend nahmen die Männer ihren Lohn entgegen, nickten kurz zum Abschied und machten sich aus dem Staub.
»Unser Geld geht zur Neige, Herr«, sagte Oswald und wog den Beutel in seiner Hand, der nur noch ein schlaffes Stück Leder war.
Erhard verzog das Gesicht. »Haben wir noch genug Vorräte?«
Oswald nickte und zeigte zwei Finger.
Zwei Wochen würde der Proviant also noch reichen. Erhard nickte grimmig. Das war nicht lang, aber immerhin. Er würde nicht aufgeben. Wenn die Meute die Fährte nicht aufnehmen konnte, dann musste er es eben selbst tun. Noch fehlten ja auch zwei seiner Leute, die er nach Sulz geschickt hatte. Vielleicht brachten die ja Neuigkeiten. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, durfte sich nicht völlig in dieser Suche verlieren. Schließlich hatte er in Reutlingen einen gut gehenden Weinhandel, den er nicht zu lang seinem Verwalter und den Knechten überlassen durfte. Zwar waren seine Bediensteten zuverlässig, doch wenn der Herr zu lange fort war, litt das Hauswesen immer darunter.
Er seufzte. Nichts war, wie es sein sollte. Seit diese rothaarige Metze seinen Sohn verhext hatte, lief alles aus dem Ruder. Wenn wenigstens Katherina in Reutlingen wäre! Sie hätte Geschäft und Haushalt im Griff. Doch sein Weib hockte immer noch in Rottweil bei Wendel. Höchste Zeit also, dass er die Sache selbst in die Hand nahm. Wenn die Lage aussichtslos schien, so konnte sie zumindest nicht schlimmer werden. Aber zuerst musste er die Geldkatze mästen. In einigen Wirtshäusern entlang des Neckars gab es noch Wirte, die ihm Geld schuldeten. Das würde er eintreiben. Und danach …
Pferdeschnauben ließ Erhard aufschauen, Hufe schlugen auf den Boden wie Trommelwirbel. Gleichzeitig drehten er und Oswald sich um und zogen die Schwerter, ließen sie jedoch gleich wieder in die Scheiden gleiten, als sie die beiden Männer erkannten, die mit wehenden Haaren auf sie zustoben. Kurz vor ihnen brachten sie ihre Pferde zum Stehen und sprangen aus den Sätteln.
Einen Moment rangen die Männer nach Atem, dann begann der größere von ihnen stockend zu berichten: »Herr, wir haben eine Spur! Eine Frau mit feuerrotem Haar hat einige Tage in Sulz im ›Lamm‹ gewohnt. Erst heute im Morgengrauen ist sie abgereist. Mutterseelenallein. Der Wirt hat ihr ein Pferd verkauft. Allerdings hat niemand gesehen, in welche Richtung sie fortgeritten ist.«
Erhard spürte, wie sein Herz schneller schlug. War es das? Hatten sie tatsächlich endlich eine Spur, die etwas taugte?
»Wie hat sie sich genannt?«, fragte Oswald.
»Maria von Felsenbrunn. Angeblich hat sie auf ihren Gatten gewartet, bis plötzlich Nachricht kam, dass er erkrankt sei. Da ist sie überstürzt abgereist.«
»Sie hat einen Komplizen!« Erhard schlug sich mit der Faust in die flache Hand. »Jemand hat sie gewarnt, deshalb hat sie sich davongemacht.«
Der andere Mann räusperte sich, schabte mit dem Fuß über den Boden.
»Was?«, fuhr Erhard ihn an.
»Es könnte einen weiteren Grund dafür geben, dass sie verschwunden ist.« Er zögerte. »Wir haben noch etwas in Erfahrung gebracht, Herr. Es gibt Neuigkeiten aus Rottweil.« Er verstummte, sah seinen Begleiter auffordernd an.
Erhard kniff die Lippen zusammen. »Was denn? Spuck’s aus!«
Als sein Gefährte nichts sagte, sprach der Mann weiter. »Eure Enkeltochter …«
Erhard sprang auf ihn zu. »Meine Enkeltochter? Was ist mit ihr? So sprecht doch, oder soll ich Euch jedes Wort einzeln aus dem Maul schlagen?« Er brüllte so laut, dass sogar Oswald zusammenzuckte.
»Sie wurde entführt.« Der Mann hielt den Kopf gesenkt, als rechne er jederzeit mit einem Schlag.
Erhard fröstelte, schwankte einen Moment. Hatte er nicht eben noch gedacht, dass es nicht schlimmer werden konnte? Er sah den Burschen an. »Von
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