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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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wem?«
    »Es heißt, dass es die eigene Mutter gewesen sei. Melissa Füger. Sie wird gesucht, alle Reichsstädte sind alarmiert.«
    Jetzt endlich suchten sie also nach ihr. Erhard wusste nicht, ob er entsetzt sein oder frohlocken sollte. Er hatte Recht behalten: Melissa war eine Verbrecherin. Doch der Triumph schmeckte schal. Warum hatte erst ein solches Unglück geschehen müssen? Warum hatte man nicht auf ihn gehört?
    Müde wandte Erhard sich ab. Armer Wendel. Der Junge musste vollkommen verzweifelt sein. Das eigen Fleisch und Blut, geraubt von dieser Verbrecherin! Das war mehr, als ein Mann ertragen konnte. Nur mit Mühe bewahrte Erhard die Fassung. Er hatte sein Enkelkind noch nie gesehen und in seiner Fantasie nahm sie die Gestalt von Elisabeth an, seiner eigenen Tochter, die als kleines Mädchen gestorben war. Er begann zu zittern. Wendel! Er braucht mich jetzt. Ich muss ihm beistehen.
    Erhard ballte die Fäuste und wandte sich wieder den Männern zu, die schweigend auf Anweisungen warteten. Sein Entschluss stand fest. Was auch immer zwischen ihm und seinem Sohn gewesen sein mochte – jetzt galt es zu beweisen, dass er Wendel immer noch ein guter Vater war, dass er ihn und die Seinen beschützte. Die Suche nach Melissa konnte er beruhigt einstellen. Sie würde sich vor den Suchmannschaften nicht mehr lange versteckt halten können.
    »Habt Dank für die gute Arbeit. Und nehmt dies als Zeichen meiner Erkenntlichkeit.« Er schüttete sich einige Münzen in die Hand, dann warf er den Männern den Beutel zu. »Teilt es. Und haltet Euch bereit. Vielleicht brauche ich Eure Dienste noch einmal.« Er sprang auf sein Pferd. »Brecht morgen früh das Lager ab, und kehrt zurück nach Rottweil. Oswald und ich reiten voraus.«
***
    Es war hell, doch der Tag schien eben erst angebrochen zu sein. Das Blau des Himmels war noch blass, Tau schimmerte auf den bemoosten Felswänden, der würzige Duft des Waldes vertrieb den muffigen Geruch der Höhle. Melisande trat vor den Eingang, Saphira folgte, machte ein paar Schritte und schüttelte sich vom Kopf bis zum Schweif. Melisande lächelte. Die Stute war überglücklich, aus dem schwarzen Loch entkommen zu sein. Höhlen waren eben nichts für Pferde. Melisande hingegen hatte in der Geborgenheit des sicheren Verstecks so gut geschlafen wie lange nicht mehr.
    Geschwind verschloss Melisande den Eingang, schwang sich in den Sattel und strich Saphira über die Mähne. »Treue Freundin. Hoffentlich muss ich dich nicht in Esslingen zurücklassen«, sagte sie, und Saphira hob den Kopf, als hätte sie ihre Worte verstanden. Melisande beugte sich vor und tätschelte Saphira den Hals. »Auf geht’s«, murmelte sie, und die Stute setzte sich in Bewegung.
    Sie waren noch nicht lange gelaufen, da hörte Melisande die Glocken von St. Dionys, die die Esslinger Bürger zur Messe riefen. Ihre ganze Kindheit über hatten diese vollen, warmen Klänge sie begleitet, und auch später, als sie unerkannt als Henker in der Stadt gelebt hatte, hatten die Glocken ihren Tag in Stunden eingeteilt. Die einzelnen Töne waren ihr so vertraut, dass sie bemerkte, dass die Esslinger die große Glocke noch immer nicht ausgetauscht hatten. Seit einem schweren Gewitter, bei dem ein Blitz in den Kirchturm eingeschlagen war, hatte sie einen kleinen Riss, der den Klang ein wenig verzerrte.
    Von einer Anhöhe ließ Melisande den Blick über die Dächer schweifen, die unter ihr im Tal lagen. Rauch stieg aus einigen Schornsteinen auf. Die Nacht war kalt gewesen, aber jetzt wärmte eine milde Septembersonne die Stadt, kämpfte mit der dunklen Wolkenfront, die von Westen her immer näher rückte. Melisandes Herz schlug heftig. Sie war zu Hause. Und doch war es kein freudiger Anlass, der sie in die Heimat zurückgerufen hatte. Irgendwo dort, unter einem dieser Dächer, wurde Gertrud gefangen gehalten. Dessen war sie sich sicher. Warum sonst hätte der Entführer einen Treffpunkt so nah bei Esslingen aussuchen sollen?
    Das Heiligkreuztor war trotz der frühen Stunde bereits geöffnet, wie immer wurden Waren begutachtet und Zölle erhoben, wie immer stritten sich Händler und Steuereintreiber, strömten die Menschen durch die Pliensau zur Inneren Brücke und von dort in die Stadt. Nur um sie, einen einsamen Reiter ohne Waren, kümmerte sich niemand.
    Einen Wimpernschlag lang war Melisande versucht, einen Umweg zu machen, um nachzusehen, ob auch das Henkershaus aussah wie damals und ob der neue Henker Haus und Garten in Ordnung

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