Die Tränen der Henkerin
noch Hoffnung.«
»Wie lange war ich …?« Er brach ab.
»Einen Tag«, erwiderte seine Mutter. »Gestern Morgen haben wir Gertruds Verschwinden bemerkt, am Nachmittag hast du dich im Keller eingesperrt und niemanden mehr zu dir gelassen. Die ganze Nacht hast du dort verbracht. Und auch den ganzen heutigen Tag. Es dämmert bereits.«
»Oh nein!« Wendel wankte. So viel Zeit, so sinnlos vergeudet! »Es gibt keine Spur von meiner Tochter?«
»Nicht die geringste.« Katherinas Stimme klang traurig. »Es haben sich viele Freiwillige gemeldet, die bei der Suche geholfen haben. Noch einmal haben sie die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, überall haben sie nachgeschaut, auf jedem Dachboden, in jeder Scheune, in jedem Keller, doch ohne Erfolg. Sie haben ihre Arbeit liegen lassen, um dir zu helfen, während du in deinem Keller gehockt hast und in deinen eigenen Exkrementen herumgekrochen bist! Du solltest dich schämen.«
Wendel schloss die Augen. Und wie er sich schämte! Er hatte sich benommen wie ein Schwächling, wie ein Feigling, wie ein kleines verängstigtes Kind. Als er wieder aufsah, bemerkte er, dass sich eine weitere Person im Raum befand, Irma Weishausen, Melissas beste Freundin. Sie sah elend aus, so elend, wie er sich fühlte.
Katherina blickte ihn an. »Irma hat einen Brief für dich, und sie wollte ihn dir nur persönlich geben. Sie hat damit gedroht, dich aus der Zunft werfen zu lassen, wenn du sie nicht empfängst.«
»So ist es.« Irma hielt ihm eine dicke Pergamentrolle entgegen, deren Siegel ungebrochen war.
Er streckte eine Hand aus, doch er verfehlte den Brief.
Katherina schlug ihm den Arm weg. »Du wirst dich zuerst reinigen. So lange wird Irma sich gedulden.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch, mit dem Zeigefinger deutete sie in Richtung Küche.
Antonius verfrachtete Wendel in den Badezuber. Das Wasser war so heiß, dass er das Gefühl hatte, gekocht zu werden. »Ich bin so ein Hornochse«, klagte er.
Antonius nickte zustimmend.
»So ein erbärmlicher Hasenfuß.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Antonius und ließ die Wurzelbürste über Wendels Rücken fahren, als müsse er den Schmutz von Jahrhunderten herunterbürsten.
»Trinkt dies, Herr.« Berbelin reichte Wendel einen bitteren Trank. »Dann wird es Euch bald bessergehen.«
Wendel schluckte widerwillig, doch tatsächlich begann sich sein Blick schon bald zu klären, seine Gedanken und Gefühle ordneten sich.
Er stieg aus dem Badezuber, rieb sich ab, legte frische Kleidung an und straffte den Rücken. Bis er seine Tochter wieder in seinen Armen hielt, würde er nur noch stark verdünnten Wein trinken und auf Bier ganz verzichten.
Irma reichte ihm die Rolle.
Mit zitternden Fingern erbrach er das Siegel. Noch bevor er das erste Wort entziffert hatte, musste er schlucken. Es war die Handschrift seiner Frau.
Liebster!
Wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits nach Esslingen aufgebrochen. Denn ich vermute, dass der Entführer unserer Tochter dort zu finden ist. Wie groß die Gefahr ist, in der sie schwebt, wie grausam der Gegner, mit dem wir es zu tun haben, wirst du erkennen, wenn du den Brief liest, den ich erhalten habe. Gott steh uns bei!
In tiefer Liebe, Melisande Füger, geborene Wilhelmis.
Wendels Hände verkrampften sich, nur mit Mühe konnte er das zweite Pergament aufrollen, das in das erste gewickelt gewesen war. Diese Handschrift kannte er nicht, aber was er las, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Melisande Wilhelmis, du hast wohl geglaubt, der Gerechtigkeit entkommen zu können! Wie du siehst, hast du dich geirrt. Dein Balg ist in meinen Händen, noch geht es ihm gut, doch das kann sich jederzeit ändern. Aber ich bin kein Unmensch. Du kannst dein kleines Kindchen freikaufen. Und der Preis ist nicht einmal sehr hoch. Bring mir den Kopf deines Gemahls, dann bekommst du deine Brut zurück. Du hast Zeit bis zum nächsten Vollmond, dann erwarte ich dich eine Meile vor den Toren der Stadt Esslingen, auf der Lichtung am höchsten Punkt der Berkheimer Steige, dort wo die Ruine der Einsiedelei steht. Solltest du es wagen, ohne den vereinbarten Preis zu erscheinen, oder solltest du gar nicht auftauchen, ist deine Tochter des Todes. Und sei versichert: Ihr Sterben wird mir die süßesten Wonnen bereiten, denn es wird langsam und qualvoll sein.
***
Es war kühl und dämmrig im Wald. Die Laute der Tiere und das Säuseln des Windes hallten schrill in Melisandes Ohren. Sie wusste, dass weit und breit keine
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