Die Tränen der Henkerin
hielt. Sie widerstand jedoch der Versuchung und begab sich ohne Verzögerung zum »Schwarzen Bären«, einem Gasthaus, in dem üblicherweise nicht viele Fragen gestellt wurden. Wie erwartet interessierte der Wirt sich weder für ihren Namen, noch für den Grund ihres Aufenthalts, sondern nahm sichtlich erfreut das Geld für Unterkunft, Stallmiete und Futter für einige Tage im Voraus entgegen. Melisande hoffte zwar, noch am gleichen Tag mit Gertrud die Stadt wieder zu verlassen, rechnete aber damit, dass es länger dauern konnte, bis sie den Aufenthaltsort ihrer Tochter ausgekundschaftet hatte und sich eine Gelegenheit bot, sie zu befreien.
Sie stellte Saphira unter, gab dem Stallknecht Anweisung, sich der Stute besser nicht zu nähern, und machte sich sogleich auf den Weg. Bald musste die Frühmesse zu Ende sein. Wenn der Mann, den sie suchte, seine Gewohnheiten nicht geändert hatte, war er unter den Kirchgängern. Sie postierte sich in einer Nische des Katharinenhospitals – ein guter Platz, denn von hier konnte sie jeden sehen, der die Kirche verließ, war aber selbst durch einen Mauervorsprung verborgen.
Sie musste nicht lange warten. Schon öffnete sich das Portal, und ein dicker Mann in bunter Kleidung trat heraus. Ohne Zweifel war es der neue Henker, der als Erster die Kirche verlassen musste. Kaum war der Dicke von der Tür weggetreten, da strömten die übrigen Kirchenbesucher ins Freie. Melisande kannte sie fast alle: Ratsherren, Kaufleute und Handwerker mit ihren Familien. Und da war auch der Mann, auf den sie gewartet hatte: Konrad Sempach. Er wirkte abgemagert, nicht mehr so feist und aufgeschwemmt wie früher, doch seine Augen funkelten so boshaft wie eh und je. Selbst wenn er lächelte, wie jetzt gerade im Gespräch mit einem anderen Ratsherrn, konnte er seine Verschlagenheit nicht verbergen, denn seine Augen lächelten nicht mit, sondern huschten unstet hin und her. Das Gesicht seiner Frau war grau und verhärmt. Die Töchter allerdings waren nirgends zu sehen. Waren sie inzwischen alle drei verheiratet? Melisande betrachtete Sempachs Gemahlin. Wie viel mochte sie von seinen Umtrieben wissen? Kannte sie die dunkle Seite ihres Gemahls? Wusste sie um seine gottlosen Gelüste? Versteckte Sempach Gertrud womöglich in seinem eigenen Haus?
Melisande zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie würde es herausfinden. Sempach hatte sich verrechnet, wenn er glaubte, sie würde sich kampflos geschlagen geben, sich auf sein absurdes Spiel einlassen. Was für ein perfider Plan, sie zwischen ihrem Gemahl und ihrer Tochter wählen zu lassen! Sie entscheiden zu lassen, ob sie Gertrud den Launen ihres Entführers überließ, oder ob sie für den Rest ihres Lebens mit der Schuld leben musste, ihren Gatten geopfert zu haben. Fast zu perfide für einen groben Klotz wie Sempach. Und doch war er der Einzige, der sie so sehr hasste, dass sie ihm solche Rachegelüste zutraute. Und der Einzige, der böswillig genug war, seine Gelüste in die Tat umzusetzen. Immerhin hatte er guten Grund, ihr Böses zu wollen, hatte sie Sempach doch als Henker Melchior an der Nase herumgeführt, ihn vor dem Rat der Stadt bloßgestellt, ihm das Geschäft vermasselt. Irgendwie musste der Ratsherr herausgefunden haben, dass der entflohene Melchior mit Melissa Füger identisch war.
Sie zog die Gugel über den Kopf und folgte Sempach mit einigem Abstand bis in die Alte Milchgasse. Er schickte seine Frau ins Haus und blieb vor der Tür stehen. Offenbar erwartete er jemanden. Seinen Komplizen? Rasch drückte Melisande sich in einen Hauseingang, damit Sempach sie nicht sah. In ihrer Verkleidung würde er sie zwar nicht erkennen, doch wenn ein Fremder in der Nähe seines Hauses herumlungerte, würde das den Ratsherrn bestimmt misstrauisch machen.
Es dauerte nicht lange, da kam ein magerer, pickeliger Bursche mit mausgrauen Haaren aus der Strohgasse gelaufen. Melisande erkannte ihn sofort. Es war Petter, ein Bote der Stadt und zudem seit Jahren Sempachs Handlanger und Spion. Natürlich wussten die übrigen Ratsherren nicht, dass einer der ihren den Boten auch für persönliche Dienste nutzte, doch Melisande, die als Henker genug von der dunklen Seite der Stadt gesehen hatte, kannte viele Geheimnisse.
Sempach flüsterte Petter etwas ins Ohr, dann verschwand er im Haus. Der Bursche lief sofort los.
Melisande zögerte nicht und folgte ihm. Was für ein Glück! Bestimmt sollte Petter etwas für den Ratsherrn erledigen. Womöglich führte er sie geradewegs
Weitere Kostenlose Bücher