Die Tränen der Henkerin
zum Versteck ihrer Tochter! Falls nicht, konnte sie Sempachs Haus immer noch später genauer in Augenschein nehmen, mitten am Tag konnte sie hier ohnehin nicht viel ausrichten.
Petter eilte in Richtung Kosbühel, wo das Badehaus stand. War Gertrud im Badehaus versteckt? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, lief er weiter, bog zum Fischmarkt ab, eilte über den Markt und steuerte die Webergasse an. Ein paarmal blickte er über die Schulter, als wolle er sichergehen, dass ihm niemand folgte. Melisande ließ sich zurückfallen, versteckte sich mal hinter einer schwer bepackten Magd, mal hinter einigen Handwerksgesellen.
Schließlich blieb Petter vor dem »Alten Landmann« stehen, einer düsteren Kaschemme, in der das Bier dünn und wässrig und die Gesellschaft derb war. Melisandes Herz klopfte. Um hierherzukommen, hätte Petter nur die Strohgasse hinauflaufen müssen. Warum dieser Umweg? Warum diese Vorsicht?
Petter schlüpfte durch die Tür des »Alten Landmanns«. Melisande zögerte. Wenn sie ihm folgte, würden alle sie anstarren, denn sie war für eine solche Absteige viel zu gut gekleidet. Was sollte sie tun? Dann fiel ihr ein, dass sie ja ein Fremder war, Raimund Halverson aus Hamburg. Als solcher konnte sie ja nicht wissen, dass im »Alten Landmann« nur das übelste Gesindel verkehrte.
Entschlossen stieß sie die Tür auf. Bitterer Gestank wogte ihr entgegen. Bier und die Körperausdünstungen Dutzender ungewaschener Leiber. Einige Gäste hoben die Köpfe, andere musterten sie abschätzend, ein Alter verzog das Gesicht zu einem zahnlosen Grinsen.
Melisande beachtete die Männer nicht weiter, trat an die Theke und legte eine Münze darauf. »Habt Ihr ein anständiges Bier für einen Reisenden, der von weither kommt?«, fragte sie mit so tiefer Stimme, wie es ihr möglich war.
»Aber immer doch.« Der Wirt knallte einen Becher auf die Theke. »Willkommen in Esslingen, Fremder.«
Melisande nahm den Becher und drehte sich wieder zum Gastraum. Petter saß an einem Tisch in einer Nische. Er war allein, ein Becher stand vor ihm. All die Geheimniskrämerei, um ein Bier zu trinken? Sie ging zu ihm. »Ihr erlaubt?«
»Ich erwarte jemanden.« Petter starrte sie feindselig an.
Melisande antwortete, ohne nachzudenken. »Vielleicht ja mich?«
»Meister Rogwald?« Petter sprang sichtlich erschrocken auf. »Verzeiht, Herr. Ich wusste ja nicht. Ich dachte, Ihr wärt – nun ja …« Er brach ab, sein Kopf glühte hochrot.
»Was denn?«, fragte Melisande. »Älter?«
»Ich weiß auch nicht.« Hastig nahm er einen Schluck Bier.
Melisandes Gedanken rasten. Petter wartete sicherlich in Sempachs Auftrag. Es war nicht schwer zu erraten, um was es ging. Als sie noch Henker von Esslingen gewesen war, hatte Sempach mit ihr ein Geschäft aufziehen wollen, hatte sogar versucht, sie zu erpressen, damit sie ihm half. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie Hals über Kopf aus der Stadt geflohen war. Offenbar hatte Sempach inzwischen neue Geschäftspartner gefunden.
Petter beugte sich vor. »Ich habe Neuigkeiten, Meister Rogwald«, flüsterte er. »Die Ware ist auf dem Weg, doch es hat eine Verzögerung gegeben.«
Melisande brach der Schweiß aus. Bei der Ware handelte es sich um Mädchen, ganz junge Mädchen, Kinder noch. Manche vielleicht kaum älter als Gertrud. Mit Mühe presste sie eine Antwort heraus. »Eine Verzögerung? Was soll das heißen?«
Petter schob nervös den Becher zur Seite. »Ihr müsst Euch zwei, vielleicht drei Tage gedulden. Mein Herr bedauert zutiefst, Euch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch er verspricht, dass sich die Wartezeit lohnen wird. Und selbstverständlich erhaltet Ihr einen Preisnachlass.«
Melisande antwortete nicht sofort. Sie musste wissen, wo das Versteck war. »Und die Örtlichkeit …«, begann sie vorsichtig.
»Mein Herr hat Euch doch sicherlich mitgeteilt, dass die Kammer im Frauenhaus zu gefährlich wurde, dass es ein neues Versteck gibt? Wenn es so weit ist, gebe ich Euch Nachricht. Dann wartet die Kleine wie besprochen in der Pliensau auf Euch. In der Scheune vom Althofen. Die findet Ihr ohne Mühe. Ich werde dort sein und Euch die geheime Kammer zeigen.«
»Warum zeigt Ihr sie mir nicht gleich jetzt? Dann weiß ich, wohin ich mich begeben muss, wenn es so weit ist.«
Petter wurde bleich. »Nein, Herr, das ist unmöglich.«
Melisandes Herz raste. Gertrud! Sie musste in der Scheune sein! Deshalb wollte Petter sie nicht dorthin
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