Die Tränen der Henkerin
leichtfertig gewesen, gutgläubig. Aber er war kein schlechter Mensch. Jetzt galt es, ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen.
Der Rat seines Waffenmeisters war das einzig Richtige gewesen: Er würde die Beweise beibringen, die Melissa überführen würden, so, wie er es von Anfang an vorgehabt hatte. Gegen handfeste Beweise konnte auch Wendel sich nicht verschließen. Er würde leiden, doch er würde nicht zusammenbrechen unter dem Schmerz. Sein Sohn war stark. Und wenn er sich wieder gefangen hatte, würden sie die Verbrecherin vielleicht sogar gemeinsam an die Stadt Augsburg ausliefern.
Erhard gab Oswald und den beiden anderen Männern, die zu ihrem Schutz mitritten, ein Zeichen. Sie setzten sich wieder in Bewegung und erreichten wenig später die Stadt. Der Gasthof »Wilder Mann« war brechend voll, den Neuankömmlingen gelang es dennoch, ein warmes Plätzchen in der Nähe des Kamins zu ergattern, wo ein anständiges Feuer prasselte, sodass sie sich aufwärmen und ihre Gewänder trocknen konnten.
Erhard gestattete seinen Männern, etwas zu essen und sich auszuruhen. Sie nahmen dankbar an, entledigten sich ihrer nassen Kleider, nahmen die Decken, die der Wirt ihnen reichte und stärkten sich mit einem Eintopf und verdünntem Wein.
Erhard selbst nahm nur wenig zu sich. Zu eilig hatte er es, Erkundigungen einzuholen. Er hielt sich an den Wirt, denn er wusste, dass dieser Berufstand bestens im Bilde war über alles, was in einer Stadt vor sich ging. Schließlich war Erhard auch Wirt, und kaum etwas, das sich in Reutlingen zutrug, entging ihm.
Er begab sich an die Theke, bestellte einen Falerner, den teuersten Wein, den der Wirt anbot, und hieß ihn, sich ebenfalls einen Becher einzuschenken. »Vielleicht habt Ihr ja Zeit, mir einen Augenblick Gesellschaft zu leisten.«
Das ließ sich der Wirt nicht zweimal sagen. »Habt Dank, Meister Füger.« Er hob seinen Becher, und sie stießen an. »Womit kann ich Euch dienen? Was wollt Ihr wissen?«
Erhard schmunzelte. »Ihr seid ein Mann, der das Leben kennt, keine Frage.«
Der Wirt lächelte verschmitzt.
»Vor etwa zwei Jahren ist hier in der Nähe ein Handelszug überfallen worden, habe ich mir sagen lassen. Erinnert Ihr Euch daran?«
Der Wirt knurrte wie ein Kettenhund und kniff die Augen zusammen. »Könnte sein, dass ich mich erinnere. Ihr seid nicht aus Urach. Was habt Ihr damit zu schaffen?«
Erhard hob beschwichtigend die Hände. »Nichts liegt mir ferner, als mich in Angelegenheiten einzumischen, die mich nichts angehen. Die Toten sollen in Frieden ruhen. Und auch den Lebenden möchte ich keinen Ärger machen.«
Der Wirt nickte misstrauisch. »Ganz recht.«
Er wollte sich umdrehen, aber Erhard packte ihn am Arm. »Vielleicht interessiert Euch, wer dafür verantwortlich war?«
Der Wirt verzog das Gesicht, als hätte er Essig statt Wein getrunken. »Das wissen wir.«
Jetzt war es an Erhard, das Gesicht zu verziehen, allerdings vor Erstaunen.
Der Wirt nahm den letzten Schluck aus seinem Becher. »Habt Dank für den Wein, Füger. Doch jetzt lasst mich in Frieden. Wenn Euch die Geschichte interessiert, geht zu Meister Fridel, dem Metzger. Der war dabei. Er hat alles mit eigenen Augen gesehen. Ich habe nichts dazu zu sagen.«
Er wandte sich ab, und diesmal versuchte Erhard nicht, ihn aufzuhalten. Aus diesem Mann würde er ohnehin nichts mehr herausbekommen.
Seltsamer Zeitgenosse, dachte Erhard. Alle Wirte, die er kannte, schwatzten für ihr Leben gern. Vielleicht mochte dieser keine Fremden. Oder er hatte mehr mit dem Überfall zu tun, als er ihn wissen lassen wollte. Blieb nur zu hoffen, dass der Fleischer gesprächiger war.
Erhard drängte sich durch das Gewimmel zu Oswald durch, der mit den anderen Männern in einem Winkel saß und Eintopf aß. »Der Wirt wollte nicht recht mit der Sprache raus«, berichtete er. »Er hat mich an einen Metzger verwiesen. Ich gehe hin und höre mir an, was er zu sagen hat.«
»Ich begleite Euch.« Der Waffenmeister schob die Schüssel weg und sprang auf, doch Erhard winkte ab. Manchmal brachte man bei einem Gespräch unter vier Augen mehr in Erfahrung.
Die Gasse der Metzger war nicht schwer zu finden, ebenso wenig Meister Fridel, der in Urach offenbar ein bekannter und geachteter Mann war.
Erhard wich einem Hund aus, der ein Stück Darm erbeutet hatte, trat an die überdachte Fleischbank und betrachtete die ausgebreiteten Waren. Sie sahen frisch aus und gut geschlagen.
Eine mollige Frau sprach ihn freundlich an.
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