Die Tränen der Henkerin
sah alles mit an. Als die Räuber sich mit ihrer Beute verzogen hatten, eilte sie aus ihrem Versteck und versorgte die Verwundeten. Vier Männern rettete sie das Leben! Ich selbst sah, wie geschickt sie die Opfer versorgt hatte, denn ich war einer der Ersten, die an der Unglücksstelle ankamen. In der Stadt sprach sich schnell herum, dass Mechthild eine Heilkundige war. Immer häufiger wurde sie herbeigerufen, wenn jemand verletzt war. Und womit haben sie es ihr gedankt?« Er streckte anklagend die Hände in die Höhe. »Sie hielten sie für eine Hexe, weil sie rotes Haar hatte, und brannten den Hof nieder, auf dem sie lebte. Der Wirt, der Euch hergeschickt hat, ist übrigens nicht ganz unschuldig an der Schandtat. Er wusste, was die Meute vorhatte, und hat zu spät Alarm geschlagen. Die beiden Alten kamen in den Flammen um, Mechthild verschwand. Und weil sie überlebte, gibt es noch immer Menschen hier in der Stadt, die fest daran glauben, dass sie eine Hexe war. Abergläubisches Pack! Wenn Euch einer von denen etwas über Mechthilds angebliche Zauberkünste erzählt, glaubt ihm kein Wort, Meister Erhard! Mechthild war eine aufrichtige und gute junge Frau, und ich hoffe sehr, dass sie irgendwo anders ihr Glück gefunden hat.«
Erhard rang nach Fassung. »Ihr seid Euch absolut sicher, dass sie mit dem Überfall nichts zu tun hatte? Immerhin war sie eine Fremde. Ihr wisst doch nichts über ihre Vergangenheit.«
Der Metzger sah ihn mit festem Blick an. »Ich bin mir sicher. Ich brauche nichts über die Vergangenheit eines Menschen zu wissen, um mir ein Urteil darüber zu bilden, ob er anständig ist oder ein Halunke. Ihr, Meister Füger, seid anständig und aufrecht, ebenso wie die Magd Mechthild. Auch wenn Euch etwas zu quälen scheint, das Euch das Herz zu zerreißen droht.«
Erhard starrte ihn an.
Meister Fridel legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich verstehe, Meister Füger, dass Ihr Gewissheit haben müsst, da sonst Eure Seele keinen Frieden finden kann. Mein Wort allein genügt offenbar nicht. Ihr solltet daher mit den Männern sprechen, die Mechthild gerettet hat, mit den vier Überlebenden. Sie allein kennen die Wahrheit. Nun, ich selbst weiß nur den Aufenthaltsort von einem von Ihnen, denn er ist ein entfernter Verwandter von mir. Er heißt Godehart von Bräseln und lebt in Speyer. Sucht ihn auf und versucht Euer Glück. Einfach wird es nicht sein, denn Godehart hat bis heute nicht über seine Erlebnisse gesprochen. Nicht ein Wort. Zu niemandem. Er ist seit dem Blutbad verstummt.«
***
Melisande schreckte hoch. Ihr Schädel brummte, als hätte sie zu viel Wein getrunken, doch sie erinnerte sich nicht, im Wirtshaus gewesen zu sein. Sie blickte sich um, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Um sie herum war es dämmrig. Irgendwo schien eine Fackel zu brennen, denn an der Mauer zuckten unruhige Lichtfetzen hin und her, doch sie war zu weit weg, um Helligkeit zu spenden. Es stank. Und es war kalt. Wo war sie?
Von irgendwoher hörte Melisande ein leises Stöhnen. Sie schrak zusammen. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein: Sempachs Haus, das Kind in der Wiege, der Schlag auf den Kopf. Die Büttel hatten sie in den Kerker geschleift und sich nicht weiter um sie gekümmert. Doch warum hockte sie in der kleinen Einzelzelle und nicht in dem großen Verlies bei den anderen Gefangenen?
Panik stieg in ihr auf. Hektisch tastete sie ihren Körper ab. Sie trug nach wie vor ihre Männerkleider. Erleichtert atmete sie aus. Zumindest hatten sie noch nicht bemerkt, dass sie eine Frau war.
Melisande schloss die Augen und versuchte, sich die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte Sempach auf der Straße überrumpelt und ihn in seiner Schreibstube bewusstlos geschlagen. Dann hatte sie das Weinen gehört und war in den ersten Stock hinaufgestiegen, ohne Sempach richtig zu fesseln. Sie erinnerte sich noch, wie sie sich über das Kind gebeugt und erkannt hatte, dass es nicht Gertrud war. Dann war da nichts als Schwärze. Wer hatte sie niedergeschlagen? Hatte Sempach sich so schnell von dem Schlag erholt? War eine der Mägde erwacht? Oder die Mutter des Kindes? Natürlich, so musste es gewesen sein. Doch Sempachs Weib hatte ihm bestimmt kein Kind mehr geboren. Es musste sich also um eines seiner Enkelkinder handeln.
Melisande stöhnte auf. Wie töricht hatte sie sich angestellt! Jetzt drohten ihr Folter und eine schwere Strafe, womöglich sogar der Tod. Sie war in das Haus eines ehrenwerten
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