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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Ratsherrn eingedrungen, hatte ihn niedergeschlagen und sich an einem hilflosen Kind vergriffen. Als sie sich über die Wiege gebeugt hatte, hatte sie das Messer noch in den Händen gehalten. Lieber Gott, wie sollte sie das erklären? Überhaupt nicht. Da gab es nichts mehr zu erklären.
    Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst. Nichts würde sie verheimlichen können, wenn man sie der peinlichen Befragung unterzog. Der Brief, den sie an Irma geschickt hatte, der Brief, der Sempachs dunkle Machenschaften entlarvte, war ihre einzige Rettung. Sie musste einen der Ratsherren überreden, sich das Schriftstück schicken zu lassen. Doch welchem der Männer konnte sie trauen? Normalerweise war Sempach einer der Ratsherren, die bei den peinlichen Befragungen zugegen waren. Das machte es nicht leichter. Henner Langkoop war ebenfalls häufig dabei. Aus ihm war sie nie recht schlau geworden, er schien sein Fähnchen nach dem Wind zu hängen. Am ehesten war wohl dem Kürschnermeister Karl Schedel zu trauen. Er war ein Mann mit strengen Prinzipien, aber aufrecht und besonnen. Ob sie verlangen konnte, mit ihm zu sprechen?
    Mit einem Mal spürte sie etwas in ihrem Ärmel. Gertruds Tuch! Rasch zog sie es hervor und hielt es sich vor das Gesicht. Süße Erinnerungen stiegen in ihr auf. Wie sie ihre Tochter zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Wie Gertrud zum ersten Mal durch die Stube gekrabbelt war, flink wie ein Eichkätzchen. Melisande schluckte die Tränen hinunter.
    Sie zuckte zusammen. Jemand näherte sich. Melisande drückte sich in die hinterste Ecke der Zelle. Je weniger deutlich man ihr Gesicht sah, desto besser. Schon flammte Fackellicht vor dem vergitterten Fenster auf, Schlüssel rasselten. Rasch ließ Melisande das kleine Tuch verschwinden. Sie musste plötzlich an all die Menschen denken, die sie hier unten der peinlichen Befragung unterzogen hatte. Welche Qualen hatten diese armen Seelen durch ihre Hand erleiden müssen! Auch wenn die meisten Verbrecher gewesen waren, die es nicht besser verdient hatten – was war mit jenen, die unschuldig verdächtigt worden waren, so wie sie jetzt?
    »Herr im Himmel! Verzeih mir die Angst und den Schmerz, das Leid, das ich als Henker von Esslingen den Menschen zugefügt habe«, wisperte sie.
    Die Tür schwang auf, Konrad Sempach wuchs aus dem Schatten wie der Teufel. Die Fackel warf verzerrte Silhouetten an die Wände. Melisande erkannte, dass hinter dem Ratsherrn ein Büttel eintrat, der Melisande hochzog, die Kette von der Wand löste und sie wortlos hinter sich herzog.
    Melisande schauderte. Sie wusste, wohin es ging: in den Thronsaal, die Folterkammer des Kerkers von Esslingen. Ihre Knie wurden weich, kaum gelang es ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie musste an den Rattenhelm denken, an die glühenden Zangen, an die Fußschrauben, mit denen sie Wendels Füße verkrüppelt hatte. Sie stöhnte, taumelte hinter dem Büttel her wie in einem Albtraum.
    Der Büttel stieß sie in den Thronsaal. Melisande blickte sich um. Nichts hatte sich verändert; noch immer sah alles aus, wie sie es aus ihrer Zeit als Henker Melchior kannte. Mit Erleichterung sah sie, dass neben dem dicken Henker auch Karl Schedel und Henner Langkoop im Raum waren. Immerhin hatte das Glück sie nicht ganz verlassen. Diese beiden Männer würden darauf achten, dass bei der peinlichen Befragung das Gesetz genau eingehalten wurde. Das bedeutete, dass der Henker ihr die Instrumente zunächst nur vorführen würde. Vielleicht ergab sich ja dabei schon eine Gelegenheit, Karl Schedel gegenüber eine Andeutung zu machen. Doch sie musste geschickt vorgehen. Sempach durfte nicht gewarnt werden, sonst sorgte er dafür, dass alle Beweise verschwanden. Bei den vielen dankbaren Kunden, die er überall im Land besaß, reichte sein Einfluss sicherlich weit.
    »Ihr Herren …« Weiter kam Melisande nicht, denn der Büttel hieb ihr die Faust in die Seite, der Schmerz ließ sie zusammenknicken wie einen Strohhalm.
    »Du redest, wenn du gefragt wirst, und dann sagst du die Wahrheit oder du wirst dem peinlichen Verhör unterzogen!«, brüllte Sempach. Auf sein Zeichen hin zog der Büttel Melisande hoch und stieß sie auf den Thron.
    Henner Langkoop verzog das Gesicht. »Werter Sempach! Hättet Ihr wohl die Güte, Euer beeindruckendes Stimmorgan ein wenig zu zügeln? Der gestrige Abend war lang, und jedes Geräusch, das lauter ist als das Schnurren einer Katze, verursacht mir größere Pein, als wenn der Henker mir auf

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