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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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war Melisandes Reich. Wenn sie diesen Platz selbst nutzte, käme es ihr so vor, als hätte sie sich schon damit abgefunden, dass ihre Schwiegertochter nicht mehr zurückkehren würde. Und das durfte nicht sein.
***
    Melisande teilte das letzte Stückchen Brot mit der kleinen Maus und lehnte sich gegen die Wand. Es schienen unendlich viele Stunden vergangen zu sein, seit sie wieder in das Verlies geworfen worden war. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich? Oder hatte man beschlossen, sie in dem dunklen Loch verrotten zu lassen? Nein, wohl kaum, denn irgendwer hatte ihr zwischenzeitlich Essen zukommen lassen: Brot, verdünnten Wein und sogar ein Stück Wurst.
    Zum wohl hundertsten Mal fragte sie sich, was nun mit ihr geschehen würde. Sie würden sie erneut peinlich befragen, so viel stand fest. Sie würden wissen wollen, was sie in Sempachs Haus gewollt hatte. Sollte sie ihnen die Wahrheit erzählen? Dass sie ihre Tochter bei ihm vermutet hatte? Doch welchen Grund sollte sie für ihren Verdacht angeben? Sie konnte ihnen schließlich nicht erzählen, dass sie sich jahrelang als stummer Henker Melchior ausgegeben hatte und dass Sempach aus dieser Zeit noch eine Rechnung mit ihr offen hatte.
    Sie seufzte. Als sie sah, dass das Mäuschen erschrocken seine blinden Augen in ihre Richtung lenkte, musste sie jedoch lächeln. »Keine Sorge, mein Kleiner, von mir droht dir keine Gefahr. Ich wünschte, ich könnte mich so klein machen, wie du es bist, dann könnten wir gemeinsam von hier fliehen.«
    Ihre Gedanken wanderten wieder zu Sempach. Was würde geschehen, wenn sie den Ratsherren von der Scheune berichtete, von dem, was sie dort gefunden hatte? Wenn sie sagte, dass sie Gertrud aus diesem Grund in seinen Händen wähnte? Sie würde auf das Dokument hinweisen, das inzwischen sicher bei Irma lag. Aber würde man ihr glauben? Würde man den Vorwürfen überhaupt nachgehen? Sie hatte Sempach schon einmal falsch beschuldigt, und die geheime Kammer in der Scheune hatte er mit Sicherheit längst leer räumen lassen.
    Die kleine Maus krabbelte auf Melisandes nacktes Bein und lief langsam ihren Körper hoch. Melisande nahm sie vorsichtig in die Hand und streichelte ihr über das Fell. »Wir sind zwei arme verlorene Seelen«, murmelte sie, das Gesicht nass von Tränen. »Blind und hilflos dem Schicksal ausgeliefert. Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir tot wären.«
***
    Bürgermeister Johann Remser seufzte und rollte das Pergament wieder zusammen, das er nun wohl schon ein Dutzend Mal gelesen hatte. Egal, wie er es drehte und wendete, er hatte keine Wahl. Wenn er Schaden von der Stadt abwenden wollte – und ebenso von sich selbst, musste er schnell handeln.
    Er stand auf und lief zum Fenster. Wenn doch nur Gerold von Türkheim hier wäre! Der Alte mit der scharfen Zunge und dem noch schärferen Verstand hatte zwar ständig für Zwistigkeiten gesorgt, weil er die Handwerkermeister nicht als gleichwertige Ratsmitglieder anerkannt hatte, doch sein Urteil war stets klug und durchdacht gewesen. Aber von Türkheim war im letzten Winter gestorben, und seither war es ruhig geworden im Stadtrat, und auch ein bisschen langweilig. Remser wischte den Gedanken fort, Vergangenem sollte man nicht nachtrauern. Er hatte einen Büttel zu Karl Schedel und Henner Langkoop geschickt. Die beiden, und sonst niemanden, wollte er einweihen. Je weniger Leute Bescheid wussten, desto besser. Aus diesem Grund hatte er sie auch in sein Haus bestellt, wo er sicher sein konnte, dass kein anderer etwas von ihrer Unterredung mitbekam. Aber warum dauerte das bloß so lang? Hoffentlich war im Kerker nichts vorgefallen, das die Angelegenheit weiter verkomplizierte!
    Es klopfte, der Büttel kündigte die beiden Besucher an, und auf Remsers Nicken betraten Langkoop und der Kürschnermeister die Stube. Remser forderte die beiden auf, Platz zu nehmen, rief nach einer Magd und orderte Wein, Brot und kalten Braten. Die Beratung würde länger dauern, das stand fest, und ein leerer Magen dachte schlecht. »Setzt Euch, meine Herren, esst und trinkt.«
    »Steht es so schlimm?«, fragte Schedel.
    Unwillkürlich musste Remser lachen. Rasch wurde er wieder ernst. »Ihr kennt mich gut, Meister Karl, das muss ich zugeben. Und ja, es kann schlimm werden, wenn wir nicht unverzüglich handeln.«
    »Geht es um Melissa Füger, die Frau im Kerker?«, fragte Langkoop kauend.
    Remser nickte. »Eben die. Sagt mir: Wie schätzt Ihr sie ein?«
    Schedel räusperte sich. »Sie ist eine

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