Die Tränen der Henkerin
Geschichte; es hieß, dass eine Hexe ihn auf ihrem Besen aus der Stadt geflogen hätte. Nicklas konnte das nicht recht glauben, aber was er gerade mitgehört hatte, das glaubte er gern. Er baute also einen Kerker für ein kleines Mädchen, das Eberhard von Säckingen entführt hatte. Anscheinend handelte es sich um die Tochter des Wendel Füger. Ein unschuldiges kleines Mädchen sollte in das Verlies gesperrt werden, das er baute!
Nicklas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Seinen Bruder durfte er nicht mehr sehen, er wurde bewacht wie ein Verbrecher, und jetzt war er auch noch Mitwisser einer furchtbaren Verschwörung. Da die Wächter nur noch tuschelten, verstand er nichts mehr, aber er hatte genug gehört. Vielleicht war es am besten, wenn er die Adlerburg verließ und sich bei einem anderen Herrn verdingte. Sollte er Othilia bitten, ihn gehen zu lassen? Ohne ihre Erlaubnis würde er nicht weit kommen, geschweige denn einen neuen Herrn finden. Aber was, wenn sie ihn nicht freigab?
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mit zitternden Händen setzte er den letzten Stab ein und verputzte die rauen Steine. Er hatte gute Arbeit geleistet. Wenn der Mörtel ausgehärtet war, würde kein Mensch der Welt aus diesem … Er suchte das passende Wort und fand es alsbald: Käfig! Ja, niemand würde aus diesem Käfig ausbrechen können. Wer immer dort eingesperrt wurde, sollte wie ein wildes Tier oder ein seltener Vogel gehalten werden.
»Genug gegafft, Schmied! Pack deinen Kram. Los, los! Vorwärts!« Einer der Wächter hatte sich erhoben und war unbemerkt hinter ihn getreten.
Nicklas packte die Wut. Was bildete dieser Tunichtgut sich ein? Er war de Bruce’ Sohn, kein Knecht, den jeder auf der Burg nach Belieben herumstoßen konnte! Blitzartig drehte er sich um, griff den Wächter an der Schulter und schleuderte ihn quer durch den Raum.
Der andere sprang auf, zog sein Schwert und hielt es Nicklas an die Kehle. »Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte.«
Nicklas zuckte nicht mit der Wimper. »Weil ich ein Bastard des Grafen bin und man dich häuten würde.«
»Schon gut!«, rief sein Kumpel und rappelte sich auf. »Ich habe ihn wohl erschreckt, und er wusste nicht, was er tat.«
Nicklas unterdrückte ein Grinsen. Was für ein erhebendes Gefühl! Die Wachen kuschten vor ihm wie junge Hunde. Warum nur hatte er das noch nie zuvor ausprobiert? Mit einer lässigen Bewegung schob er die Klinge zur Seite und stolzierte mit den beiden Wächtern im Schlepptau aus dem Palas. Gegen Othilia konnte er nichts ausrichten, aber er konnte Gott gegenüber sein Gewissen erleichtern. Vater Fussili würde sicherlich Zeit für ihn finden und ihm die Beichte abnehmen.
***
Melisande zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie war schon lange wach, aber sie hatte sich vorgestellt, sie sei in Rottweil, Wendel sei bei ihr, Gertrud, ihre Tochter, Raimund, ihr Sohn, und ihre Schwiegereltern Erhard und Katherina. Es war Sommer, sie feierten Gertruds Hochzeit. Der Verlobte ihrer Tochter war ein angesehener junger Mann aus Ulm, den sie auf einer Reise mit ihrem Vater kennengelernt hatte. Du musst nur fest daran glauben, sagte sie sich, dann wird es eines Tages wahr. Bevor sie angefangen hatte, sich ihre Zukunft auszumalen, hatte sie einen Plan gefasst, wie sie aus Esslingen fliehen konnte. Sie würde sich nicht wie ein Schaf zur Schlachtbank führen lassen. Solange ihre kleine Tochter irgendwo gefangen gehalten wurde und ihre Hilfe brauchte, solange ihr kleiner Sohn in ihr heranwuchs, war sie nicht bereit, kampflos zu sterben.
Sie hatte darüber nachgedacht, wann der geeignete Zeitpunkt für einen Fluchtversuch wäre. Am besten wäre es natürlich, man ließe sie eine Weile im Thronsaal allein, dann wäre ihre Flucht ein Kinderspiel. Aber das war ebenso wahrscheinlich wie Schneefall im Sommer. Nein, sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Die beste war der Prozess, die zweitbeste die Hinrichtung. Während des Prozesses würden ihr die Fesseln abgenommen werden, da sie zum einen als Frau keine Gefahr darstellte und der Rat zum anderen damit zeigen wollte, dass die Stadt Esslingen anständig mit Beschuldigten umging. Dass sie es in diesem Fall mit dem besten Henker zu tun hatten, den Esslingen je gehabt hatte, würden die Ratsherren erst merken, wenn es zu spät war, wenn sie den Bürgermeister Johann Remser als Geisel genommen und aus der Stadt geflohen war. Sollte sie diese
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