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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Melisande konnte nicht verhindern, dass ihr die Angst in die Glieder fuhr. Sie zählte schneller. »… sechs, sieben, acht, neun, fünfzig.«
    Dieselbe Stimme hallte durch den Gang, dumpf zwar, aber diesmal laut genug, dass Melisande sie verstehen und vor allem herauszuhören vermochte, dass sie vor Angst verzerrt war. »Überfall!«, konnte Melisande verstehen. »Zu Hilfe!« Dann: »Verräter im Verlies!« Eine andere Stimme rief ebenso laut: »Lass ihn nicht entkommen, mach ihn nieder, schnell!«
    Melisandes Herz machte einen Sprung. Diese Stimme kannte sie. Wendel! Sie sprang hoch und warf sich gegen die Tür. »Ich bin hier!«, schrie sie und trommelte mit den Fäusten gegen das raue, feuchte Holz. »Hol mich raus!« Ihre Stimme überschlug sich.
    Schritte näherten sich, ein Gesicht schob sich in ihr Blickfeld.
    »Wendel!«, hauchte Melisande und konnte ihre Freudentränen nicht zurückhalten. Sie streckte eine Hand durch die vergitterte Sichtluke.
    Wendel griff sie und küsste jeden Finger einzeln. »Verzeih mir, Liebste, bitte verzeih mir, ich bin so ein …«
    »Ja, Wendel, ja, das bist du, und ich verzeihe dir alles, aber hol mich hier raus, ich kann nicht mehr …« Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben, wie ihr die Stimme versagte. Sie sank auf den Boden und hörte Wendels entsetzten Schrei.
    »Melisande, was ist? So sag doch etwas!«
    Mühsam zog sie sich hoch.
    Wendel lächelte sie an. »Wir sind gekommen, um dich zu befreien. Antonius ist hier. Und Eberhard von Säckingen.«
    Melisande erstarrte. »Was will dieses Ungeheuer bei euch?«
    »Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier. Er hilft uns. Othilia von Hohenfels hat es ihm befohlen, und es scheint ihm ernst zu sein.«
    Ein Beben lief durch Melisandes Körper. Von Säckingen bekehrt? Das käme einem Wunder gleich. Andererseits war er schon einmal herbeigeeilt, als ihr Leben in höchster Gefahr gewesen war – damals auf dem Fronhof bei Hülben. Melisande schob ihre Zweifel zur Seite. Sie würde später Gelegenheit haben, darüber nachzudenken, welche Rolle Eberhard von Säckingen in diesem merkwürdigen Spiel spielte. »Brich das Schloss auf, Wendel, schnell!«
    Wendel nickte, sein Gesicht verschwand von dem vergitterten Sichtloch. Melisande lehnte sich gegen das Holz und lauschte den Kratzgeräuschen auf der anderen Seite der Tür. Wärme strömte durch ihren Körper. Wendel war gekommen, er hatte sich bis in den Esslinger Kerker durchgeschlagen, um sie zu befreien!
    Eine Weile geschah nichts, nur vom anderen Ende des Kerkers waren dumpfe Laute zu hören. Dann brachte ein schwerer Schlag die Kerkertür zum Beben. Melisande zuckte zusammen.
    »Ich bekomme das verdammte Schloss nicht auf.« Wendels Gesicht erschien wieder vor dem Gitter. »Die Wachen haben Alarm geschlagen. Bald wird Verstärkung hier sein. Tritt einen Schritt zurück.«
    Melisande drückte sich an die hintere Wand. Panik stieg in ihr auf. Was würde geschehen, wenn Wendel das Schloss nicht aufbekam? Hatte er es so weit geschafft, um vor ihrer Tür aufgeben zu müssen?
    Wieder krachte es gegen das Holz. Wendel fluchte. Ein weiterer Schlag folgte, doch die Tür gab nicht nach, sie schien Wendel und sie verhöhnen zu wollen. »Das Schloss ist verhext, es lässt sich nicht öffnen, und die Türe lässt sich auch nicht aus den Angeln heben.« Wendel umfasste mit beiden Händen die Gitterstäbe. »Ich bin gleich wieder da!«, rief er. »Ich hole Antonius, der hat mehr Kraft.«
    »Hier kommst du mit Gewalt nicht weiter!«, wollte Melisande Wendel hinterherrufen, aber er war schon verschwunden. Sie warf sich auf den Boden und durchwühlte das modrige Stroh. Wo war das verdammte Ding? Sie hatte es doch vorhin noch in der Hand gehabt! Sie schleuderte das Stroh zur Seite, schlug vor Wut und Verzweiflung mit den Fäusten auf den nackten Boden und schrie vor Schmerz auf. Ihre rechte Hand blutete, aber sie hatte den Dorn gefunden!
    Erneut krachte es an der Tür, Melisande rappelte sich hoch. Antonius’ Gesicht erschien vor der Luke, er nickte kurz und setzte sein Werk fort.
    »Lass es sein!«, schrie sie gegen den Lärm an. »Du kannst diese Tür nicht mit Muskelkraft überwinden.«
    Die Schläge hörten auf. Wendel erschien an der Luke. »Und was sollen wir tun?«
    Melisande reichte den Dorn durch das Gitter. »Biege das Ende zweimal um. Damit kannst du das Schloss öffnen.«
    »Beeilt Euch! Die Soldaten kommen!« Von Säckingens Stimme fuhr Melisande in die Glieder. Sie hatte sie sofort

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