Die Tränen der Henkerin
Wenn er sich beeilte, wäre er noch vor dem Ritter dort. Vielleicht gelang es ihm sogar, von Säckingen vor dem Burgtor aufzulauern und Melisande aus seiner Gewalt zu befreien. Dazu müsste er den Ritter allerdings überrumpeln, denn im Zweikampf wäre er ihm hoffnungslos unterlegen. Wendel legte sich nieder und rollte sich in seinen Mantel. Jetzt musste er ruhen, morgen würde er sich einen Plan zurechtlegen.
***
Eisiger Wind pfiff durch die Straßen, niemand ging freiwillig aus dem Haus, doch in der Stube war es behaglich. Walburg hatte das Feuer geschürt und wärmte über der roten Glut einen Topf Wein, den sie mit Ingwer, Zimt und Zucker verfeinerte. Als das Getränk heiß war, füllte sie zwei Becher, einen für Katherina und einen für Irma, die gerade ihre Erzählung beendete: »… und vor einer Stunde ist eine Gesandtschaft des Rates nach Esslingen aufgebrochen. Zwar wurde schon im Morgengrauen ein Bote vorausgeschickt, doch die Angelegenheit erschien den Herren zu wichtig, sie wollen sich höchstselbst davon überzeugen, dass die Nachricht auch im Esslinger Rat ankommt.«
»Dann ist Melisande gerettet«, sagte Katherina voller Hoffnung und nippte an ihrem Wein. Das heiße Getränk breitete sich in ihrem Körper aus und verströmte eine angenehme Wärme, ebenso wie Irmas Worte es taten.
»Melisande?«, fragte Irma verwirrt.
Katherina biss sich auf die Lippe. »Melissa, meine ich.«
»Ist das ihr wirklicher Name? Melisande?«, beharrte Irma.
Katherina nickte. Was machte es schon für einen Unterschied? Der Esslinger Rat wusste um Melisandes Schicksal, also würde es bei der Unterredung mit der Gesandtschaft aus Rottweil bestimmt zur Sprache kommen. Lorentz Weishausen würde es bald wissen, da konnte sie es auch gleich seiner Gemahlin erzählen. »Melissas tatsächlicher Name ist Melisande Wilhelmis. Sie stammt aus Esslingen. Ihre Familie wurde ermordet, als sie noch ein kleines Mädchen war, und sie musste viele Jahre unter falschem Namen leben, weil die Mörder immer noch hinter ihr her waren«, sagte sie leise.
Irma schlug die Hand vor den Mund. »Wie schrecklich! Hat das etwas mit Gertruds Entführung zu tun?«
Katherina sah sie überrascht an. An diese Möglichkeit hatte sie noch gar nicht gedacht. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu.
Die beiden Frauen drehten sich überrascht um, als es so laut an der Tür klopfte, als wolle jemand sie einschlagen.
Berbelin, die gerade die Treppe herunterkam, öffnete.
»Guten Morgen, Kind«, ertönte eine Stimme, die Katherina nur zu gut kannte. »Ich muss dringend mit meiner Gemahlin sprechen. Ist sie im Haus?«
Berbelin sah zögernd zu Katherina, die ihren Weinbecher von sich wegschob. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich freute, die Stimme ihres Gemahls zu hören. Er war ein Holzkopf und hatte sich mit Schuld beladen, aber sie liebte ihn. »Wenn du in ehrlicher Absicht und mit Frieden im Herzen kommst, dann trete ein!«, rief sie zur Tür hin. »Ansonsten bleib draußen!«
Sie hörte Erhard schnauben. »Ich komme mit den besten Absichten.«
Katherina schwieg. Etwas mehr musste er ihr schon entgegenkommen.
»Und ich bringe gute Nachrichten.«
Katherina sprang auf. »Dann tritt ein und sei willkommen.«
Erhard trat in die Stube, zog den Mantel aus und überreichte ihn Berbelin.
Katherina griff ihn am Arm. »Du hast Nachricht von Wendel? Von Melisande?«
Ihr Gemahl warf einen raschen Blick zu Irma.
»Sie ist Melisandes Freundin, sie weiß Bescheid«, sagte Katherina. »Du kannst offen vor ihr sprechen.« Sie nahm seine Hände und schloss einen Moment die Augen. Wie hatte sie ihn vermisst! Wie hatte sie sich gewünscht, dass sie endlich ihren Zwist begruben! »Sag, was du weißt.«
Erhard zog die Stirn in Falten. »Nichts Neues von Wendel, leider.«
Katherina presste die Lippen zusammen. Die Hoffnung, die kurz in ihr aufgeflammt war, verglomm.
Erhard führte sie zurück zum Tisch und setzte sich, auch Katherina nahm wieder Platz, aber sie ließ seine Hände nicht los.
Walburg reichte Erhard einen Becher Wein, der eine Hand freimachte und gierig trank. »Immerhin weiß ich jetzt, was damals in Urach geschehen ist.« Er sah Katherina an und lächelte. »Unsere Schwiegertochter trifft keine Schuld. Im Gegenteil: Sie hat vier Männern das Leben gerettet.«
Unsere Schwiegertochter! Katherina sah ihren Gemahl an. Noch nie hatte er dieses Wort verwendet. Was auch immer er erfahren hatte, es musste seine Meinung über Melisande völlig ins
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