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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Säckingen hatte die Luke geöffnet. »Ihr könnt rauskommen. Es ist niemand in der Nähe«, sagte er rau.
    Melisande versuchte, sich zu erheben, doch aus ihren Gliedern war alle Kraft gewichen, ihre Muskeln brannten wie Feuer.
    Hände umfassten ihre Schultern und zogen sie hoch. »Wartet, ich helfe Euch. Ihr müsst ganz benommen sein von der langen Fahrt.« Von Säckingens Stimme klang ungewöhnlich weich.
    Sie spürte die ungeheure Kraft des Ritters, wie ein kleines Mädchen hob er sie aus dem Versteck heraus, wollte sie tragen, aber sie machte sich los, um aus eigener Kraft vom Wagen zu klettern.
    Von Säckingen verstand und hielt ihr nur die Hand hin, um sie zu stützen. Fast wäre sie gestürzt, aber dann stand sie mit zittrigen Beinen auf dem Boden. Sie versuchte, sich zu orientieren. Doch mehr als ein wenig flirrendes Grün und Braun vermochte sie nicht zu erkennen. Das Tageslicht blendete sie, und in ihrem Kopf rauschte es, als wäre sie betrunken.
    Von Säckingen drückte sie sanft auf einen Baumstumpf. »Setzt Euch, Ihr seid noch ganz wackelig auf den Beinen.«
    Melisande atmete ein paarmal tief ein und aus, langsam beruhigten sich ihre Sinne, Einzelheiten tauchten aus dem Nebel vor ihren Augen auf. Das Tageslicht, das ihr in den Augen gebrannt hatte, war nicht besonders hell. Im Gegenteil: Es dämmerte bereits. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung mitten in einem dichten Nadelwald. Kein Weg war zu sehen, nicht einmal ein schmaler Pfad. Allein der Himmel wusste, wie von Säckingen den Wagen hierhergeschafft hatte. Ein sicheres Versteck, fernab der Landstraße. Ob Wendel hier zu ihnen stoßen würde?
    Melisande betrachtete den Ritter, der damit beschäftigt war, ein kleines Feuer zu entzünden. Er trug schmutzige, blutbefleckte Lumpen, doch auch darin sah er nicht aus wie ein Bauer. Seine breiten Schultern und seine kräftigen Arme zeichneten sich unter der zerschlissenen Kleidung deutlich ab, sein Rücken war stolz und gerade, nicht von harter Arbeit gebeugt. Warum hatte von Säckingen ihr bei der Flucht geholfen, warum hatte er sein Leben für sie riskiert? Was führte er im Schilde? Dass er einfach nur helfen wollte, bezweifelte Melisande – vor allem, da der Auftrag angeblich von seiner Herrin Othilia kam. Die Gräfin kannte Melisande nicht einmal. Was sollte die Herrin einer Burg sich um das Schicksal einer einfachen Kaufmannsfrau scheren?
    Melisande hob einen Zweig vom Boden auf, drehte ihn in den Händen und reiste in Gedanken zurück zu dem Tag, als sie zur Hinrichtung von Ottmar de Bruce nach Urach aufgebrochen war. Als wäre es gestern gewesen, standen die Bilder vor ihren Augen: wie sie das Richtschwert in den Boden gerammt und dann geflohen war; wie de Bruce sie auf der Lichtung überrascht hatte; wie sie ihn im Zweikampf besiegt und für seine unsterbliche Seele gebetet hatte und …
    Der Zweig zerbrach. Natürlich! Sie hatte de Bruce ihr Kruzifix in die Hände gelegt, das Kruzifix, das ihr Vater zu ihrer Geburt hatte anfertigen lassen. Ein wertvolles, einzigartiges Schmuckstück. Der Goldschmied, der es gefertigt hatte, würde sich mit Sicherheit daran erinnern.
    Melisande starrte auf das Gras zu ihren Füßen. Wann hatte der Albtraum begonnen? Wann hatte sie die Tafel gefunden? Etwa zwei Wochen, nachdem sie erfahren hatte, dass de Bruce’ sterbliche Überreste im Wald entdeckt worden waren. Und wer konnte so grausam sein, sie zuerst mit den Gegenständen aus ihrer Vergangenheit zu peinigen, dann ihre Tochter zu entführen und das Unmögliche von ihr zu verlangen, zwischen dem Leben ihres Kindes und dem Leben ihres Gatten zu wählen? Nur eine Frau konnte einen solch perfiden Racheplan ersinnen. Eine Frau, die abgrundtief hasste: Othilia von Hohenfels. Sie übte Rache für den Tod ihres Gemahls. Sie musste das Kruzifix gesehen und erkannt haben, dass sein Besitzer Ottmars Mörder war, und sie musste herausgefunden haben, dass es einmal Melisande Wilhelmis gehört hatte. Melisande stöhnte auf.
    Von Säckingen fuhr herum. »Alles in Ordnung?«
    »Mir schmerzen sämtliche Glieder«, sagte sie rasch. »Es fühlt sich an, als wäre ich in eine Schlucht gestürzt.«
    »Ich bewundere Eure Tapferkeit.« Von Säckingen neigte leicht den Kopf. »Sicherlich waren die Tage im Kerker eine Qual und die Reise in diesem Sarg alles andere als bequem.« Er wandte sich wieder ab.
    Melisande wagte es nicht, ihn nach Wendel zu fragen. Die Angst vor der Antwort schnürte ihr die Kehle zu. Was, wenn die

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