Die Tränen der Henkerin
sollte er tun? Den Mann der Tür verweisen? Den Sohn verleugnen? Nein, das ging nicht. Es ging niemanden etwas an, dass Wendel ein Nichtsnutz war, der seine Familie verraten und in Schande gestürzt hatte und sich offenbar nicht einmal zu schade war, sich bei einem Reisenden einzuschmeicheln, um sich damit bei seinem Vater lieb Kind zu machen. Aber da hatte Wendel sich getäuscht. Solange er mit dieser Hexe unter einem Dach wohnte, war er nicht sein Sohn und brauchte sich in Reutlingen nicht blicken zu lassen. Erhard räusperte sich. »Seid willkommen, ehrenwerter Johann Hartkopf. Ich hoffe, ich kann die Versprechen«, Erhard fuhr sich verlegen durch das Haar, »meines Sohnes einlösen. Kommt doch herein.«
Der Ratsherr schaute sich um, schnüffelte und nickte dann. »Zumindest was das Essen angeht, hat er nicht zu viel versprochen. Wenn ich mich nicht täusche, habt ihr einen Braten im Ofen?«
»Das habt Ihr gut erkannt, werter Johann Hartkopf. Seid Ihr hungrig? So setzt Euch. Wenn es Euch beliebt, lasse ich sofort auftragen.« Auf das Nicken des Gastes hin klatschte Erhard in die Hände. Schon kamen die Mägde herbeigeeilt, deckten den Tisch, schenkten Wein aus und trugen das Essen auf: Schweinebraten in Honigsoße mit gelben Rüben und frischem Brot.
»Das sieht köstlich aus.« Der Kaufmann und seine Begleiter ließen sich nieder und langten kräftig zu.
Erhard setzte sich zu ihnen, von Reisenden erfuhr man immer allerhand Neuigkeiten. »Was führt Euch nach Reutlingen, mein Herr, wenn ich fragen darf?«
»Ein offizieller Auftrag im Rahmen meines Amtes, Meister Füger.«
»Und darf man erfahren, welcher Art Euer Auftrag ist?«
Johann Hartkopf legte sein Messer neben das Brett, auf dem noch ein guter Batzen Braten lag. »Der Rat von Augsburg hat mich beauftragt, die Handelswege hier in Württemberg in Augenschein zu nehmen. Deshalb reise ich kreuz und quer durch das Land.«
»In der Tat, mit den Straßen und ihrer Sicherheit steht und fällt der Handel.« Erhard Füger brummte wissend. »Ich hoffe, Ihr findet sie in bester Ordnung.«
»Nun ja, Euer geschätzter Graf Ulrich tut sein Bestes, ohne Zweifel, dennoch werden immer wieder Handelszüge überfallen. Vor zwei Jahren etwa gab es in der Nähe von Urach einen Überfall, bei dem auch einige Augsburger ihr Leben lassen mussten. Immer wieder hören wir von Raubrittern, die auf der Alb ihr Unwesen treiben. Wir müssen die Kosten für solch gefährliche Reisen abschätzen können, damit wir nicht mit Verlust arbeiten. Und wir drängen darauf, dass die Wege besser geschützt werden.«
Erhard Füger kratzte sich am Kinn. Die Erwähnung des Überfalls in Urach hatte ihn auf einen Gedanken gebracht. »Darf ich Euch etwas fragen?«
Hartkopf stach sein Messer in das Fleisch, biss ein Stück ab, kaute und nickte.
»Kennt Ihr einen Merten de Willms?«
»Aber ja. Er ist verschollen, vermutlich bei dem Überfall umgekommen, den ich soeben erwähnte. Das Letzte, was man von ihm weiß, ist, dass er ebendiesen Handelszug begleiten wollte. Allerdings hat man keinen Mann unter den Toten gefunden, der seine Papiere bei sich trug. Und der Leichnam, den man der Familie schickte, war ein Fremder. Sein Schicksal ist also ungeklärt. Vielleicht hat man in Urach die Toten verwechselt, vielleicht hat Merten doch überlebt und aus irgendeinem Grund bis heute nicht die Gelegenheit gehabt, mit seiner Familie in Kontakt zu treten. Womöglich weiß er gar nicht, dass man ihn für tot hält.« Hartkopf seufzte. »Die Familie tut mir leid. Mit Merten haben sie ihren letzten Spross verloren. Manchmal sind die Wege des Herrn nicht nur unergründlich, sondern auch grausam, meint Ihr nicht auch?«
»In der Tat, in der Tat«, antwortete Erhard. »Und der arme Merten hatte keine Geschwister?«
»Das ist ja das Furchtbare: Sechs Söhne hatten die de Willms, und alle sind tot oder verschollen. Ein schweres Schicksal.« Hartkopf hob seinen Krug. »Auf dass wir von solcher Unbill verschont bleiben!«
Die Männer stießen an und wiederholten den Trinkspruch. Doch Erhard war in Gedanken weit weg. Er würde nach Augsburg reisen müssen, um sich Gewissheit zu verschaffen, doch es gab keinen Grund, auch nur einen Wimpernschlag lang an Hartkopfs Worten zu zweifeln. Eine Melissa de Willms gab es nicht, und es hatte sie nie gegeben. Die Metze, die Wendel geehelicht hatte, war also eine Betrügerin, so wie er es immer vermutet hatte.
Er atmete tief durch. Wenn er seinem Sohn den Beweis dafür
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