Die Tränen der Henkerin
dem, was von seinen Füßen übrig war: einem Haufen winziger Knochen. Wie harmlos Ottmar aussah! Sein Schädel besaß nichts Furchteinflößendes, er konnte keine Gedanken mehr fassen, sein Mund keine Befehle mehr erteilen, seine Hände konnten niemandem mehr Schmerzen zufügen, aber auch keine Begierde mehr in ihr entfachen.
Othilia stutzte. Die Hände. Nicht alle seine Habseligkeiten lagen zu Otmars Füßen. Neben der rechten Hand blitzte eine silberne Kette im fahlen Kerzenschein, daran befestigt ein Kruzifix. Unwillkürlich blickte Othilia über die Schulter. Dann streckte sie die Hand nach dem Kreuz aus, berührte es und zuckte zurück, als sei es verhext. Ottmar hatte viele Dinge besessen, eines aber war nicht darunter gewesen: ein Kruzifix.
D AS
V ERSTECK
»Meister Füger!« Der Anführer des Zuges zog ein Gesicht, als hätte er einen Krug Essig getrunken. »So kann es nicht weitergehen. Wenn der Teufel hinter Euch her ist, dann geht uns das nichts an. Entweder Ihr mäßigt Eure Geschwindigkeit, oder Ihr zieht allein weiter.«
Erhard Füger ballte die Fäuste unter seinem Gewand. Dieser verfluchte Handelszug kroch durchs Land wie eine Schnecke! Warum nur war er auf den Gedanken gekommen, sich ihm anzuschließen? Warum nur hatte ihm keiner gesagt, dass Ochsenkarren dabei waren? Mit denen kam man nicht vor und nicht zurück. Hätte er das gewusst, dann hätte er zwei Männer als Leibwache angeheuert und wäre auf eigene Faust losgeritten. Aber was nicht war, das konnte ja noch werden. Zwei Tage hatte er verschwendet, ab heute würde er schneller vorankommen. »Genau das werde ich tun«, sagte er. »Und ich werde zwei Eurer Männer mitnehmen. Ausgehandelt habe ich es bereits. Gebt Euch also keine Mühe, es ihnen wieder auszureden.«
»Ihr wagt es, mir zwei Männer abzuwerben? Was fällt Euch ein, den Zug so zu schwächen … Das werdet Ihr mir büßen, Füger! Haltet ein, oder ich …«
Erhard Füger ließ den Mann nicht ausreden, der Kerl hatte ja keine Ahnung, was auf dem Spiel stand. Er schwang sich auf sein Pferd, an das ein weiteres Tier angebunden war, sprengte an den Kopf der Wagenkolonne, pfiff zweimal scharf durch die Zähne, und schon gesellten sich zwei junge Männer zu ihm, die ebenfalls Ersatzpferde mit sich führten und schwer bewaffnet waren. »Morgen Mittag will ich in Augsburg sein, Männer!«, rief er. »Ist das ein Problem für Euch?«
Als Antwort gaben sie ihren Pferden die Sporen und schossen los, dass der trockene Staub der Landstraße aufwirbelte. Erhard Füger warf einen letzten Blick auf den Zug und die Kaufleute, die ihn missmutig anstarrten, dann beeilte er sich, der Staubwolke zu folgen.
Zur Mittagsstunde des folgenden Tages trafen Erhard Füger und seine Leibwachen wohlbehalten in Augsburg ein. Er gab den beiden ihren Sold und noch ein paar Heller extra als Wegzehrung und begab sich dann ohne Verzögerung zum Hause der de Willms. Von dem scharfen Ritt schmerzte ihm jeder Knochen im Leib; er war zweifellos nicht mehr der Jüngste. Dennoch beflügelte ihn die Aussicht, der Lösung seiner Probleme nahe zu sein.
Dank Johann Hartkopfs Beschreibung fand er das Gebäude sofort: einen prachtvollen Steinbau, der die hohe Stellung und den Reichtum der Familie de Willms für alle sichtbar machte. Nachdenklich musterte Erhard die Fassade. Was halfen Reichtum, Wohlstand und Besitz, wenn es niemanden gab, der das Lebenswerk fortführen konnte? Ein Stich fuhr ihm ins Herz. Fast alle seine Kinder waren früh gestorben, und der einzige Sohn, der ihm geblieben war, hatte sich von ihm abgewandt. Ja, er musste Wendel zurückgewinnen – koste es, was es wolle. Er hatte keine andere Wahl.
Ohne weiter zu zögern, hob er den bronzenen Türklopfer, in den ein Löwenkopf eingearbeitet war, und ließ ihn dreimal auf das dunkle Eichenholz fallen. Nur wenig später öffnete sich die Sichtluke, und die kleinen wässrigen Augen einer Magd musterten ihn misstrauisch.
»Ich bin Meister Erhard Füger aus Reutlingen. Ich habe Nachricht für die Familie de Willms, ihren Sohn Merten betreffend.«
Die Magd zögerte.
»Es ist dringend. Wenn du vermeiden willst, dass du ausgepeitscht wirst, dann melde deiner Herrschaft augenblicklich meinen Besuch.«
Die Augen der Magd weiteten sich, die Sichtluke klappte zu. Kurz darauf drangen aus dem Inneren des Hauses laute Stimmen, und bevor Erhard Füger den Löwenkopf noch einmal gegen die Tür fallen lassen konnte, schwang sie nach innen auf. Vor ihm stand ein Mann
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