Die Tränen der Henkerin
ihrer Rechten. »Eure Träne verrät mir, dass Ihr die Wahrheit bereits erraten habt.« Er nestelte einen Beutel von seinem Gürtel, griff hinein und hielt ihr einen Ring hin. Ottmars Siegelring. Sie erkannte ihn sofort. »Euer Gatte, Ottmar de Bruce ist tot. Wir haben ihn keinen Tagesritt von hier gefunden, in den Wäldern südwestlich meiner Residenz Hohenurach. Er ist Opfer einer Bärin geworden.«
»Einer Bärin?« Othilia rang um Fassung. Ottmar war dem Henker entkommen, um von einem wilden Tier bezwungen zu werden? »Verzeiht, Graf, ich …«
»Ihr habt Euch nicht verhört. Es ist wahr. Wir haben Euren Gemahl in einer Bärenhöhle gefunden. Die Bewohnerin, ein Muttertier mit einem Jungen, war eine grausame Menschenfresserin, der auch ich beinahe zum Opfer gefallen wäre, hätte nicht mein Hauptmann …«
Ulrich verstummte, und Othilia begriff, woher die dunklen Schatten unter seinen Augen rührten. »Dann hat Gott ihn also gerichtet«, sagte sie leise. Ja, natürlich! Wie hatte sie nur so dumm sein können, darauf zu hoffen, dass Ottmar seiner gerechten Strafe entging? Der Herrgott brauchte kein weltliches Gericht und keinen Henker, um einen Sünder zu strafen. Er hatte seine eigenen Wege, und auf einem dieser Wege hatte er Ottmar die Bärin geschickt. Sie bekreuzigte sich und senkte den Kopf.
»Eure Frömmigkeit schenkt Euch Weisheit, Othilia«, sagte der Graf anerkennend. »Ja, ich pflichte Euch bei: Gott hat das Urteil vollstreckt, das wir über Euren Gemahl gesprochen haben und dem er sich feige entziehen wollte. Der strafenden Hand des Herrn entgeht niemand.«
Eine Weile schwiegen sie.
Schließlich hielt Othilia es nicht mehr aus. »Wie geht es nun weiter, Graf? Werde ich …?«
Ulrich hob die Hände. »Macht Euch keine Sorgen, verehrte Othilia. Es bleibt alles, wie es ist. Es gibt einen rechtmäßigen Erben, der die Nachfolge Eures Gemahls antreten wird, sobald er alt genug ist. Bis dahin verwaltet Ihr sein Erbe. Das habt Ihr bislang sehr zu meiner Zufriedenheit getan. Ihr besorgt die Geschäfte der Burg – verzeiht mir, wenn ich es so offen sage – um einiges besser, als Graf Ottmar es je getan hat.«
Othilia atmete durch. Obwohl Trauer sie zu übermannen drohte, musste sie besonnen bleiben. Ottmar war tot, und das schmerzte mehr, als sie sich zugestehen wollte, aber sie würde darüber hinwegkommen. Jetzt hieß es, nach vorne zu blicken und den Weg für ihren Sohn zu ebnen. Sie musste nur darauf achten, dass niemand auf den Gedanken kam, die Adlerburg sei nun leichte Beute, musste sicherstellen, dass ihr niemand die Herrschaft streitig machte oder meinte, sie müsse wieder verheiratet werden. Stärke musste sie zeigen, Stärke und nochmals Stärke. Sie richtete sich auf. Sie würde allen beweisen, dass sie eine würdige Gräfin de Bruce war, eine, auf die Ottmar zu Recht stolz wäre.
»Verzeiht, Gräfin.« Ulrich beugte sich vor. »Leider bin ich in Eile.«
Othilia steckte den Ring in ihr Gewand. »Erlauchter Graf. Ich danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt. Seid versichert, ich werde Euch nicht enttäuschen.« Sie erhob sich und deutete eine Verbeugung an.
Ulrich tat es ihr gleich. Dann räusperte er sich. »Wir führen die sterblichen Überreste Eures Gemahls mit uns.«
Ein Schauder durchfuhr Othilia, doch sie fasste sich schnell. »Ich denke, die Kapelle ist der richtige Platz, um Ottmar aufzubahren. Wäret Ihr so gütig, die Gebeine dorthin bringen zu lassen?«, sagte sie. »Dann könntet Ihr ohne weitere Verzögerung aufbrechen.«
»Wenn das Euer Wunsch ist, werde ich es veranlassen.« Sichtlich erleichtert wandte sich Ulrich ab und verließ den Saal.
Nachdem Graf Ulrich sich verabschiedet hatte und seine Ritter samt seinem Banner von der Adlerburg verschwunden waren, ging Othilia zur Kapelle. Es war an der Zeit, von Ottmar Abschied zu nehmen. Sie schickte ihr Gefolge weg, betrat das stille, kühle Gotteshaus zum zweiten Mal an diesem Tag und stellte sich vor den Tisch, auf dem die Gebeine ihres Gatten aufgebahrt waren. Unschlüssig starrte sie auf die bleichen Knochen. Sie wartete auf die Tränen, die sie die ganze Zeit unterdrückt hatte, doch sie wollten nicht fließen. Was dort vor ihr lag, war nicht ihr Gemahl. Das war nicht Ottmar de Bruce, nicht sein Feuer, nicht seine Leidenschaft, nicht seine Stärke.
Sie ließ den Blick wandern. Die Reste seines Gewandes und alles, was Ulrichs Männer sonst noch bei ihm gefunden hatten, lag zu seinen Füßen, oder besser bei
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