Die Tränen der Henkerin
seinem Sohn verzeihen und sie als Schwiegertochter annehmen würde.
Es musste einfach so sein! Melisande verlangsamte ihre Schritte. Tief in ihrem Inneren aber wusste sie, dass nichts je wieder gut werden würde. Dass das Unheil irgendwo lauerte und jeden Tag alles zunichtemachen konnte, was ihr etwas bedeutete. Und das hatte nichts mit Erhard Füger zu tun. Wenn doch ihre einzige Sorge wäre, dass ihr Schwiegervater sie nicht ausstehen konnte! Wie glücklich könnte sie sein! Seit fünf Tagen spielte sie den Menschen, mit denen sie zusammenlebte, nun schon etwas vor, tat so, als ginge alles seinen gewohnten Gang. Dabei war die Zeit stehen geblieben, seit sie die Tafel gefunden hatte. Manchmal gab sie sich der Vorstellung hin, ihre Sinne hätten ihr einen Streich gespielt, sie hätte sich alles nur eingebildet. Oder die Tafel, die sie verbrannt hatte, wäre gar nicht ihre gewesen. Schließlich hatte sie sie nicht umgedreht, hatte nicht überprüft, ob tatsächlich ihre Initialen eingeritzt waren.
»Du kommst gerade recht, Melissa.« Wendel schaute nicht auf, als Melisande die Stube betrat. Er hatte sein bestes Gewand angelegt und nestelte an der Tasselscheibe herum, die ihm wohl noch nicht gerade genug hing. Melisande hatte sie ihm im vergangenen Jahr geschenkt; die Scheibe zeigte zwei ineinander verschlungene Äste, ein Symbol für ihre unverbrüchliche Liebe.
»Warte, ich helfe dir.« Sie trat zu ihm hin, rückte die Scheibe zurecht.
»Danke, Liebste.« Er blickte zur Treppe. »Ist alles bereit für den Besuch?«
»Das hoffe ich.« Melisande lächelte ihn an. »Diese einfältigen Mädchen und Buben! Der Berbelin ist doch tatsächlich wieder einmal die Sau ausgebüchst, und der Michel hat natürlich erst ihr geholfen, statt sich um das Stroh zu kümmern.«
»Sie sind wie eine Herde Lämmer. Aber du hast sie fest im Griff.« Wendel nahm sie in die Arme, drückte sie an sich, und sie wusste, dass er ihren sehnlichsten Wunsch teilte und sagen wollte: Hoffentlich hat Gott meinem Vater Einsicht geschenkt, damit er endlich Frieden schließt. Er sah sie an. »Wir dürfen meine Mutter nicht mit unseren Hoffnungen überfallen. Wenn sie gute Nachrichten hat, wird sie von selbst davon anfangen. Und wenn nicht …«
»… dann freuen wir uns wie immer über ihren Besuch und heißen sie in unserem Haus willkommen«, ergänzte Melisande. »Lass uns jetzt nach draußen gehen, sie müssen jeden Moment da sein.«
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, polterte Michel mit hochrotem Kopf die Treppe hinunter. »Es ist fertig, Herrin, alles ist fertig.«
Melisande nickte. »Gut, Michel. Geh in den Hof und hilf Wolfgang beim Holzspalten.«
»Sehr wohl!« Michel rannte sogleich hinaus.
Wendel und Melisande gingen vor die Tür, wo Selmtraud, Berbelin und Walburg bereits warteten. Selmtraud hielt Gertrud auf dem Arm, sang leise ein Lied, zu dem das Mädchen in die Hände klatschte und gluckste. Berbelin hatte sich Kornblumen ins Haar gebunden, Walburgs Gesicht glänzte, als hätte sie das Schweinefett nicht in die Suppe gerührt, sondern auf ihren Wangen verteilt.
Menschen und Tiere zogen an der Haustür vorbei. Mägde eilten mit gefüllten Körben auf das Waldtor zu oder liefen zum Gramansbrunnen, um Wasser zu holen. Ein Karren mit Tonwaren rammte um Haaresbreite einen Mann, der ein langes Brett mit einem Dutzend Brotlaiben auf der Schulter balancierte.
»Du Tölpel!«, rief der Mann empört. »Kannst du nicht aufpassen?«
»Pass selber auf, Großmaul!«, schnauzte der Fuhrknecht zurück und spuckte auf den Boden. »Pack die Brote doch in einen Korb!«
»Sie sind noch heiß, Hornochse!«, gab der Mann mit den Broten zurück. »Im Korb würden sie zerdrückt, das muss doch selbst ein Einfaltspinsel wie du wissen.«
Den Rest des Wortgefechts bekam Melisande nicht mit, denn in diesem Augenblick lösten sich zwei vertraute Gestalten mit ihren Pferden aus dem Gewimmel und kamen auf die Wartenden zu. Melisande lächelte, doch ihr Lächeln erstarb, als sie ihre Mienen sah. Der Mund ihrer Schwiegermutter war zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst, Antonius’ Augen waren trüb und gerötet; dunkle Ringe hatten sich tief in seine sonst so rosige Haut eingegraben.
Was war geschehen? In Melisandes Bauch machte sich ein flaues Gefühl breit. Sicherlich ist es nur wegen der Reise, redete sie sich ein. Bestimmt war sie hart und anstrengend.
Als Katherina sie und Wendel erblickte, breitete sich ein freudiges Strahlen auf ihrem Gesicht
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