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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Aufgaben gewidmet, doch jetzt musste sie die letzten hellen Stunden des Tages nutzen. Sie erhob sich, trug den Schemel zurück in die Küche, schöpfte sich einen Becher Wasser und öffnete die Kammertür.
    Auf der Schwelle blieb sie entsetzt stehen. Pergamentrollen lagen auf dem Boden verstreut, das Schreibpult war verschoben. Ein Einbrecher? Ein Dieb? Ihr Herz schlug schneller, ihr Atem beschleunigte sich. Sie horchte.
    Nichts.
    Niemand.
    Doch.
    Ein Knacken! Irgendwo weiter hinten im Haus.
    Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Langsam drehte sie sich um, ließ den Blick durch die Küche und den dunklen Gang wandern, der zur Hintertür führte. Da war niemand. Sie tastete nach dem Messer, das sie immer unter dem Gewand am Gürtel trug. Dann rannte sie die Treppe hoch und stieß nacheinander jede Zimmertür auf. Es war niemand da. Selmtraud war mit Berbelin beim Tuchhändler, um Stoff für neue Bettwäsche zu besorgen. Die beiden hatten Gertrud mitgenommen. Die Köchin brachte den Kuchen zur Zunftversammlung, und zwei der Knechte waren beim Wagner, um den Karren abzuholen, den dieser repariert hatte. Außer Melisande war nur ein Knecht im Haus, Michel, der vermutlich draußen bei den Tieren war. Sie lief die Treppe wieder hinunter und durch die Küche zur Hintertür. Behutsam öffnete sie und spähte hinaus.
    Michel kam gerade aus dem Stall. »Kann ich etwas für Euch tun, Herrin?«
    »Hast du hier im Hof jemanden gesehen?« Melisande trat hinaus und schaute sich um.
    »Nein, Herrin. Allerdings habe ich gerade die Pferde gefüttert. Eure Stute hat ordentlich Radau gemacht, mag sein, dass ich nicht gehört habe, wie jemand vorbeikam.«
    »Merkwürdig. Dann habe ich mich wohl geirrt«, sagte Melisande rasch. »Geh wieder an die Arbeit, Michel!« Bekümmert kehrte Melisande ins Haus zurück. Hatte sie sich nicht vor wenigen Augenblicken noch darüber gefreut, dass sie nichts mehr zu fürchten hatte? Dass es ihr gutging? Die Pergamente! Melisande erschrak. Es waren wichtige Dokumente darunter, hoffentlich fehlte keins! Sie lief in die Schreibkammer, kniete sich auf den Boden, sortierte alles und atmete auf. Nichts war abhandengekommen. Gott sei Dank! Aber was hatte der Eindringling dann gewollt? Hatte er etwas gesucht, das er nicht gefunden hatte? Aber was? Nachdenklich stapelte sie die Pergamentrollen wieder auf dem Pult, ihr Herz beruhigte sich etwas, jedoch nur, um ihr im nächsten Moment fast aus der Brust zu springen. Vor ihr lag eine Schreibtafel. Aber nicht die von Melissa Füger und auch nicht die von Wendel Füger. Nein, es war eine alte, abgenutzte Schreibtafel aus dunklem Holz. Eine Schreibtafel, die sie unter Tausenden erkannt hätte: die Schreibtafel des Henkers von Esslingen. Ihre alte Schreibtafel.
    Aber das war nicht möglich! Melisande zitterte so sehr, dass sie sich setzen musste. Sie hatte die Tafel doch zusammen mit allen anderen verräterischen Habseligkeiten im Wald verscharrt! Niemand kannte das Versteck. Und selbst wenn jemand es zufällig gefunden hatte – niemand konnte wissen, dass es ihre Sachen waren! Nein, sie musste sich täuschen. Sicherlich sah diese Tafel ihrer nur ähnlich. Behutsam berührte sie die zerkratzte Wachsoberfläche, als wäre sie glühend heiß. Sie könnte sie umdrehen, auf der Rückseite nach den eingeritzten Initialen suchen. Doch das war nicht nötig. Es gab keinen Zweifel.
    Einen Moment lang war Melisande gelähmt. Dann sprang sie auf, griff nach der Tafel, stolperte in die Küche und warf sie ins Herdfeuer. Gebannt sah sie zu, wie das Wachs schmolz, das Holz Feuer fing, wie die Flammen die Erinnerung an den stummen Melchior langsam auffraßen. Schließlich war die Tafel zu Asche verbrannt, doch das war nur ein schwacher Trost. Jemand kannte ihr Geheimnis, und dieser Jemand wollte, dass sie es wusste.
    Melisande sank auf den Boden, vergrub ihr Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus.

D AS
Z ERWÜRFNIS
    Zu schade, dass sie nicht dabei gewesen war, als ihre Widersacherin ihr kleines Präsent erhalten hatte. Othilia öffnete die Augen und tastete nach von Säckingen. Seit sie ihn vor mehr als zwei Wochen zur Rede gestellt hatte, war er auf ihren Befehl hin auf der Adlerburg geblieben. Sie hatte ihm noch nicht erzählt, dass ihre Männer einen Schatz gefunden hatten, der mehr wert war als eine ganze Wagenladung Gold. Sie hatte auf den richtigen Moment gewartet.
    Othilia fand seinen Arm, strich über die weiche Haut, unter der sich feste Muskeln spannten.

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