Die Tränen der Henkerin
Von Säckingen schien auch im Schlaf jederzeit bereit zu sein, seine Feinde in den Staub zu treten. Ob er wusste, wie nötig sie ihn brauchte, jetzt, wo de Bruce tot war? Ob sich herumgesprochen hatte, dass viele meinten, sie müsse wieder heiraten? Vermutlich. Sie fühlte sich wie Penelope, die Frau des Odysseus, die ebenfalls von Freiern bedrängt worden war. Nur, dass Ottmar tatsächlich tot, Odysseus aber lediglich verschollen gewesen war und nach seiner Rückkehr alle Freier erschlug. Sie schmunzelte. Ottmar hätte von Säckingen nicht erschlagen, dafür hätte sie schon gesorgt. Aber ihr Geliebter hätte die Adlerburg verlassen müssen.
Jetzt waren die Karten neu gemischt und sie brauchte von Säckingen, vor allem, um sich die übrigen Freier vom Hals zu halten. Heiraten würde sie ihn nie und nimmer. Ihn nicht, und einen anderen auch nicht, so es sich vermeiden ließ. Schließlich war sie als de Bruce’ Witwe die Herrin der Adlerburg, als Gemahlin eines neuen Herrn aber wäre sie nichts weiter als ein dummes Weib, das die Hofdamen herumkommandieren und ihrem Gatten Söhne gebären durfte. Sie hoffte darauf, dass ihr das Glück geneigt war und es ihr gelang, Ulrich III. davon zu überzeugen, dass eine erneute Heirat nicht notwendig, ja sogar schädlich war. Sollte sie damit scheitern, würde sie sich einen mächtigen Burggrafen suchen – einen, der ebenfalls verwitwet war und keinen Erben hatte. So wenigstens könnte sie ihren Einfluss mehren und das Erbe für ihren Sohn vergrößern.
Aber das eilte nicht. Zunächst galt es, Ottmars Mörderin zu richten. Und dafür mussten all die schönen Dinge, die ihre Männer in dem Versteck gefunden hatten, zurück zu ihrer rechtmäßigen Besitzerin. Das würde die feige Schlange langsam, aber sicher in den Wahnsinn treiben.
Es war Zeit, aufzustehen. Othilia schwang die Beine aus dem Bett. Sie hatte es aus Frankreich kommen lassen, ein blauer Baldachin war darüber gespannt, wie ein Himmel. Barfuß lief sie zum Fenster und schob den Laden auf. Das Morgenlicht tauchte den Horizont in zarte Rottöne, vom Hof her hörte sie gedämpfte Stimmen und Geschirrgeklapper. Eine Lerche sang, unterbrochen von den hässlichen Tönen einer Krähe. Othilia fröstelte. Obwohl die Nacht kühl gewesen war, hatte sie nackt geschlafen, denn von Säckingen strahlte Körperwärme für zwei aus. Auch jetzt zog sie sich nicht sofort an, sondern genoss den kalten Luftzug auf ihrer Haut.
An der Wand hing ein großer Spiegel aus feinstem Silber. Sie trat davor und begutachtete ihren Körper. Von ihrer ersten Schwangerschaft war nichts zurückgeblieben; ihre Taille war genauso schmal wie vor der Heirat, sie hatte kein Gramm zugenommen. Zufrieden strich sie sich über die Brüste. Sie waren etwas größer geworden, aber nach wie vor fest. Das Einzige, das sie an ihrem Körper störte, war ihre Stimme. Sie war zu hoch, und wenn sie aufgeregt war, klirrte sie wie Metall, das aufeinanderschlug. Sie hatte schon alles versucht, um dieses Ärgernis abzuschalten, aber nichts hatte geholfen. Also bemühte sie sich, möglichst ruhig und tief zu sprechen.
Sie drehte sich zum Bett um. »Steht auf, Ihr Taugenichts!«
Von Säckingen stöhnte. »Herrin! Es ist noch mitten in der Nacht. Steht etwa der Feind vor den Toren?« Er richtete sich verschlafen auf, sein Oberkörper glänzte noch von dem Öl, mit dem sie ihn eingerieben hatte.
»Der Feind steht nicht vor den Toren, nein, noch sitzt er in seinem Loch. Er wittert etwas, aber er kann die Richtung nicht erkennen, aus der die tödliche Gefahr kommt. Gegenwärtig ist er vermutlich nur ein wenig beunruhigt. Aber das werden wir bald ändern.« Othilia trat zu einer Truhe, öffnete sie und zog ein Kleid hervor. »Was seht Ihr, von Säckingen?«
»Herrin, ich sehe Euch in der ganzen Pracht, die der Herr Euch geschenkt hat, und Ihr haltet ein blaues Kleid in der Hand.« Der Ritter streckte die Glieder und schüttelte das blonde Haar.
Othilia kam nicht umhin, wieder einmal zu bemerken, dass er ein wirklich perfektes Mannsbild war. Allerdings nur, was den Körper anbelangte. »Ein blaues Kleid? Schaut genau hin!«
Von Säckingen krabbelte aus dem Bett, rieb sich die Augen, zuckte mit den Schultern. »Verzeiht, Herrin. Es bleibt, was es ist.«
»Oh nein, es ist viel mehr.« Othilia lächelte. Sie streifte sich das Kleid über. »Das ist viel mehr als einfach nur Stoff, den eine geschickte Hand zu einem kleinen Kunstwerk veredelt hat. Dieses Kleid ist die Haut
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