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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Wind blies von Südwest. Der Sommer war ungewöhnlich warm gewesen, vielleicht gönnte Gott den Menschen nach den vielen harten Wintern der letzten Jahre einen milderen Jahresausklang. Im letzten Winter war die Adlerburg fast drei Monate lang eingeschneit gewesen, keine Maus hatte die Mauern verlassen können, keine Boten waren durchgekommen. Othilia hatte sich in dieser schweren Zeit den Respekt ihrer Leute erworben: Nicht nur für das leibliche Wohl ihrer Untertanen hatte sie gesorgt, sondern auch für genug Beschäftigung. Nach dem Winter waren die Wachen gedrillt wie nie zuvor, die Waffen glänzten, sämtliches Holz war geölt, jeder bröckelnde Stein innerhalb der Gebäude ausgebessert. Einmal in der Woche hatte es im Palas sogar Wettspiele gegeben, denen auch die Mägde und Knechte beiwohnen durften. Ja, Othilia war eine ungewöhnliche Frau. Und schwer zu durchschauen.
    Von Säckingen blickte sich erstaunt um. Offenbar waren die Rottweiler keine sehr eifrigen Kirchgänger. Obwohl die Frühmesse im Gange war, herrschte auf den Straßen reges Treiben. Umso besser – je mehr Menschen ihn umgaben, desto leichter konnte er zwischen ihnen untertauchen. Er zog seine Gugel tief ins Gesicht. Unter seinem weiten Umhang hatte er das Kleid versteckt und ein Messer, das so scharf war, dass es mit einer einzigen Bewegung einen Finger abtrennen konnte. Wer immer ihm in die Quere kam, würde das mit dem Leben bezahlen.
    So geschäftig es auf der Hauptstraße zuging, so verlassen lag die Blumengasse da. Von Säckingen schaute sich unauffällig um, dann nutzte er die Gelegenheit, sprang aus dem Stand über den Zaun, zog den Beutel mit den Körnern hervor, und bevor ein Huhn vor Aufregung gackern konnte, hatte er ihnen die Leckereien bereits hingeworfen. Nichts anderes interessierte nun die Tiere, als möglichst rasch möglichst viele Körner aufzupicken. Von Säckingen rümpfte abschätzig die Nase. Die Menschen waren nicht viel anders. Man brauchte nur zu wissen, wie die Körner geartet sein mussten, die man ihnen hinwarf, damit sie alles andere vergaßen.
    Plötzlich polterte es. Schnell duckte sich von Säckingen hinter den Brunnen. Keinen Moment zu früh. Im Nachbarhaus wurde eine Tür aufgestoßen, eine grobschlächtige Magd trat mit einem Korb voll Wäsche heraus, stapfte ans Ende des Grundstücks und begann, die Kleider über den Zaun zu hängen. Ausgerechnet jetzt! In der Hocke arbeitete sich von Säckingen zur Hintertür vor. Er sah sich um. Die Magd war noch immer mit der Wäsche beschäftigt. Er zog einen Draht aus seinem Beutel, bog ihn mit geübtem Griff zurecht und schob ihn ins Schloss. Ein paar Wimpernschläge später sprang die Tür auf, ohne ein Geräusch zu machen. Die Scharniere waren gut geölt.
    Von Säckingen hielt den Atem an. Von drinnen war nichts zu hören. Er schlich ins Haus und zog die Tür hinter sich zu. Wieder blieb er abwartend stehen. Der Duft von frischen Kräutern und Geräuchertem schlug ihm entgegen, und er war froh, dass sein Magen gut gefüllt war. Er sah sich um und erkannte zu seiner Rechten die Schreibkammer; Pergamentrollen lagen wohlgeordnet in Regalen, das Schreibpult glänzte frisch geölt. Zu seiner Linken lag die Kellertür, geradeaus ging es in die Küche und die Stube. In der Stube wandte er sich nach links. Von hier führte eine Treppe ins Obergeschoss. Jetzt hieß es Obacht geben. Die Spione hatten berichtet, dass diese Treppe knarzte wie ein Tannenwald im Wind und dass sie bisweilen sogar bis auf die Straße zu hören war. Heute brauchte er sich darum zwar keine großen Sorgen zu machen, denn das Haus war verlassen und auf der Straße lärmten bereits die ersten Fuhrwerke. Dennoch wollte er versuchen, kein Geräusch zu machen. Als Übung. Denn Othilia hatte angedeutet, dass dies nicht sein letzter Besuch im Hause Füger sein würde.
    Vorsichtig setzte von Säckingen einen Fuß auf die erste Stufe und verlagerte sein Gewicht, bis es ganz darauf lastete. Nichts. Er drückte sich hoch, zog den zweiten Fuß nach, ging in die Knie und presste die linke Hand auf die nächste Stufe, die bei der Berührung leise stöhnte. Er verstärkte den Druck, die Stufe wurde jedoch nicht lauter, sondern schwieg alsbald. Gut! So würde es gehen.
    Eine Stufe nach der anderen erklomm von Säckingen, das Holz ächzte unter seinem Gewicht, leise zwar, aber doch vernehmlich. Wäre jemand im Haus gewesen, wäre er sofort entdeckt worden. Falls es tatsächlich einen nächsten Besuch gab, musste er es

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