Die Tränen der Henkerin
allein?
»Hast du das auch gehört?«, flüsterte Katherina. »Ist jemand im Haus?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Melisande ebenso leise. »Es hat sich angehört, als sei jemand im Dachgeschoss.«
»Aber die Mägde und Knechte sind doch alle mit zur Messe gegangen.« Katherina sah nicht ängstlich aus, eher verwundert.
Melisandes Herz aber raste. »Ich weiß«, sagte sie. Ihre Gedanken überschlugen sich. Jemand war im Haus. Jemand, der hier nichts zu suchen hatte. Der Eindringling, der die Tafel in die Schreibkammer gelegt hatte? Die Tafel des Henkers Melchior … Mit einem Mal wurde ihr eiskalt. Bestimmt war es nur ein gewöhnlicher Einbrecher. Mit dem würde sie fertig werden. Dem würde sie zeigen, dass er sich das falsche Opfer ausgesucht hatte. Niemand hatte das Recht, einfach in ihr Haus einzudringen. Wer auch immer sich auf dem Dachboden versteckte, sie würde ihm nicht wehrlos gegenübertreten. »Warte hier«, wisperte sie Katherina zu. Sie rannte die Stufen hinunter und riss in der Küche eine schwere Pfanne von der Wand. Damit kehrte sie zu Katherina zurück. »Hier, nimm!«
Entsetzt starrte ihre Schwiegermutter sie an. »Was soll ich damit?«
»Zuschlagen, wenn es sein muss.«
Katherina nickte grimmig. »Gut.« Sie hob die Pfanne hoch über ihren Kopf und folgte Melisande die Treppe hinauf.
Vor der Gästekammer zog Melisande ihr Messer hervor. Mit einer schnellen Bewegung stieß sie die Tür auf.
Nichts.
Sie betraten die Schlafkammer.
Nichts.
Doch!
Melisande schrie auf. Auf dem Bett lag ein Kleid, das sie mit Sicherheit nicht dorthin gelegt hatte. Ein Kleid, das hier nicht sein sollte, nicht sein durfte.
»Was ist los?« Katherina sah sich im Zimmer um.
»Nichts«, stammelte Melisande. »Nur die Angst.«
»Vielleicht sollten wir besser vor dem Haus auf die Männer warten?«
Über ihnen ertönte ein schabendes Geräusch.
»Warte hier!« Melisande rannte los, die enge Stiege ins Dachgeschoss hinauf. Als sie auf dem Treppenabsatz ankam, flatterte eine Taube auf.
Der Raum war leer. Sie war zu spät gekommen.
***
Von Säckingen hielt die Luft an. Diese Frau war in der Tat ungewöhnlich mutig und schlau. Sie hatte offenbar erraten, dass er nur über das Dach fliehen konnte, und sie war bereit gewesen, ihn zu stellen. Oder war sie einfach nur töricht und hatte den Sinn für die Gefahr verloren? Sie hatte ihren Kopf durch die verschobenen Schindeln gesteckt und in alle Richtungen geschaut, aber zu seinem Glück war sie nicht hinausgeklettert, um einen Blick über den Giebel nach hinten zu werfen. Dann hätte sie ihn entdeckt. Vielleicht war Melisande auf seinen Trick hereingefallen, vielleicht hatte sie ihn aber auch gar nicht stellen, sondern nur verjagen wollen.
Von Säckingen stieß Luft aus. Letztlich fehlten ihr doch die Erfahrung und die Gewitztheit eines Kriegers. Er war zur Hauptstraße hin auf das Dach geklettert – ein kurzer Moment der Gefahr, aber niemand hatte hinaufgeschaut – und war dann über den Giebel auf die Hinterseite gestiegen. Hier war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass jemand ihn entdeckte. Dennoch wurde es Zeit, dass er sich aus seiner misslichen Lage befreite, seine Arme brannten wie Feuer vor Anstrengung. Die Dachneigung war so steil, dass er sich mit aller Kraft festklammern und zugleich ganz behutsam bewegen musste, weil sonst die Schindeln ins Rutschen kommen würden. Er zog sich langsam hoch, legte sich auf den Giebel und spürte erleichtert, wie der Schmerz in seinen Armen und Beinen verebbte. Nur ein wenig länger, und er wäre vom Dach gefallen wie reifes Obst vom Baum.
Eine Weile blieb von Säckingen so liegen, dann wechselte er auf das Nachbardach, das weniger steil war, und ließ sich langsam hinabgleiten. Ein Apfelbaum reichte bis zur Kante; es war ein Leichtes, an ihm hinunterzuklettern und durch den Hinterhof auf die Straße zu gelangen. Dort zog er die Gugel wieder tief ins Gesicht. Er wagte einen letzten Blick über den Zaun zu Melisandes Haus. Alles schien ruhig zu sein.
***
Melisande stolperte zurück in ihre Schlafkammer, wo Katherina ihr ängstlich entgegenblickte.
Sie lächelte. »Eine Taube«, sagte sie mit betonter Leichtigkeit. »Ein paar Dachschindeln sind verrutscht, und eine Taube ist durch die Lücke hineingeflogen. Wir sind vielleicht zwei dumme Weiber! Erschrecken uns vor einem Täubchen zu Tode.«
Auch Katherina lächelte nun, doch ihr Lächeln wirkte verkrampft. »Dann ist ja alles gut«, sagte sie und ließ den Arm
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