Die Tränen der Henkerin
anders angehen.
Endlich erreichte er den Treppenabsatz, legte die Hände darauf, zog die Beine nach. In der Hocke wartete er und lauschte. Keine Gefahr. Er richtete sich auf, schaute sich um. Die Tür zur Schlafkammer war nur angelehnt. Er gab ihr einen sanften Stoß und bemerkte erleichtert, dass auch ihre Scharniere bestens geschmiert waren. Sofort schlug ihm der Duft von Rosenöl entgegen.
Von Säckingen erstarrte. Plötzlich saß er wieder auf seinem Pferd und ritt auf den Fronhof bei Hülben. Er erblickte Mechthild, die Magd, und derselbe Duft von Rosen stieg ihm in die Nase. Er wankte, hielt sich an einem Bettpfosten fest, rieb sich das Gesicht, um wieder klar denken zu können. Suchend ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Ein Bett, ein Schemel, eine große Truhe an der Wand, eine etwas kleinere neben dem Bett. Die große Truhe hatte kein Schloss. Er hob den Deckel an. Wäsche lag darin. Eine sauber gefaltete Cotte, ein moosgrünes Gewand, ein Umhang aus schwerer Wolle und einige weitere Kleidungsstücke. Von Säckingen hob das Gewand heraus und vergrub sein Gesicht darin. Rosenöl. Ihm schwindelte. Er strich über den Stoff. Wie Mechthild darin wohl aussah? Oder vielmehr Melisande. Es fiel ihm immer noch schwer, sich vorzustellen, dass die Magd vom Fronhof Melisande Wilhelmis war.
Hinter dem Haus ertönten Stimmen. Von Säckingen zuckte zusammen. Sein Herz raste. Wie hatte er sich nur so vergessen können! Er ließ das Gewand in die Truhe fallen, schloss sie behutsam und sprang auf. Mit wenigen Schritten war er in der kleinen Kammer beim Treppenabsatz und spähte aus dem Fenster. Zwei Frauen, von denen er eine sofort erkannte. Ihm stockte der Atem. Die Augen, die Lippen, die Art, wie sie sich bewegte. Und die rote Haarsträhne, die unter der weißen Haube hervorgerutscht war. Jetzt hatte er endgültig Gewissheit: Melissa Füger war Mechthild und somit wohl auch Melisande Wilhelmis. Er hatte sie gefunden.
Von Säckingen krallte die Finger in das Fensterbrett. Er hatte sie gefunden, und doch war sie unerreichbar für ihn. Nicht etwa, weil dieser weibische Jammerlappen von ihrem Gemahl zwischen ihnen stand, nein, der stellte kein Hindernis dar. Es war die mächtige Gräfin Othilia de Bruce, seine Geliebte und Herrin, die ihm Melisande streitig machte. Und mit ihr war nicht zu spaßen.
Von Säckingen rief sich zur Ordnung. Dies war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Jetzt stand Dringlicheres an. Rasch überlegte er: Die andere Frau musste Melisandes Schwiegermutter sein. Warum betraten die beiden Frauen das Haus von der Hinterseite? Wo waren die übrigen Mitglieder des Haushaltes? Etwa schon an der Vordertür?
Schlagartig erwachten seine erstarrten Glieder zum Leben. Er stürzte zurück in das Schlafgemach, zog das blaue Kleid unter seinem Umhang hervor und breitete es auf dem Bett aus. Er warf einen letzten Blick darauf.
Der Fronhof. Mechthilds kühner Blick. Ihr feuerrotes Haar.
Die Stimmen wurden lauter. Jetzt klimperten Schlüssel. Die beiden Frauen hatten die Hintertür erreicht.
»Oh! Ich habe wohl vergessen abzusperren!« Das musste Melisande sein.
Er hörte Schritte, die Frauen betraten die Stube und schnitten ihm damit den Fluchtweg ab – er saß in der Falle.
***
»Ich lege mich ein wenig aufs Bett, dann geht es mir gleich wieder besser«, sagte Melisande. Es war ihr unangenehm, dass Katherina sich so um sie sorgte. Warum war das auch ausgerechnet heute passiert? Als sie sich in der Kirche auf den kalten Steinboden gekniet hatte, war ihr plötzlich schwarz vor Augen geworden. Wendel hatte sie sofort nach Hause bringen wollen, doch Katherina hatte sich vorgedrängt. »Ich mache das, mein Junge«, hatte sie entschieden. »Das ist Frauensache, davon verstehst du nichts. Mach dir keine Sorgen.« Sie hatte Melisande am Arm gepackt und hinaus an die frische Luft geführt. Am Spitalbrunnen hatte sie ein Tuch befeuchtet und damit Melisandes Stirn gekühlt, dann waren sie durch die schattigen Nebengassen zurück zum Fügerschen Haus gegangen.
»Ich begleite dich nach oben«, sagte Katherina und hakte Melisande erneut unter.
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch. Nach ein paar Stufen blieb Melisande stehen, um zu Atem zu kommen. »Einen Augenblick …« Ihr war noch immer ein wenig unwohl, und das Treppensteigen strengte sie an. Plötzlich knarrte es über ihren Köpfen. Erschrocken sah Melisande ihre Schwiegermutter an. Was war das? Waren sie etwa nicht
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