Die Tränen der Henkerin
hatte als sonst. Es war eine Aufforderung an alle am Tisch, sich zu fragen, ob sie auf dem rechten Weg wandelten. Ahnte er etwas? Oder ließ ihn der Gedanke an seinen Vater zu solch nachdenklichen Worten greifen?
Wendel schwieg einen Moment, bevor er das Gebet beendete. Das »Amen« flüsterte er fast. Er zögerte kurz, dann brach er ein Stück Brot und tunkte es in die Suppe.
Sichtlich erleichtert tauchten die drei Knechte ihre Löffel in die Schalen. Sie hatten offenbar schon großen Hunger gehabt, und mit dem Beten nahmen sie es ohnehin nicht so genau. Nicht dass sie keine gute Christen waren. Sie waren wohl eher der Ansicht, dass ein leerer Magen nicht so gottgefällig beten konnte wie ein gefüllter.
Eine Weile waren alle so in die Mahlzeit vertieft, dass niemand sprach. Selbst Gertrud nuckelte zufrieden an einem Brotkanten. Melisande sah zu Antonius hinüber. Er ließ seine Schüssel nicht aus den Augen und mied ihren Blick, sein schlechtes Gewissen war ihm geradezu auf die Stirn geschrieben.
Katherina brach schließlich das Schweigen. Sie grinste schelmisch und hob drohend den Zeigefinger in Wendels Richtung. »Du solltest wirklich besser auf Melissa achtgeben, mein Sohn! Wie kannst du deine zerbrechliche kleine Gemahlin nur in ihrem besten Kleid im Garten schuften lassen!« Sie kicherte und zwinkerte Melisande zu.
Mein Gott, dachte Melisande erschrocken, warum kann sie nicht ihr Mundwerk im Zaum halten? Sie hat mir doch versprochen, nichts zu erzählen. Hoffentlich springt Wendel nicht darauf an!
Doch der legte das Brot beiseite und setzte eine ratlose Miene auf. »Ich soll was?«
Katherinas Lachen stoppte abrupt. »Na ja, ich meine das wunderschöne blaue Kleid. Wir haben doch gestern Stoff gekauft, damit ich Melissa ein neues Kleid nähen kann, und heute kommen wir von der Messe heim, und was sehe ich auf eurem Bett liegen? Ein Gewand von ebendiesem strahlenden Blau. Allerdings völlig verdreckt. Deine arme Gemahlin hat damit im Kräutergarten geschuftet. Ist das nicht eine Schande?«
Die Mägde und Knechte blickten neugierig auf.
Katherina schaute hilfesuchend zu Melisande. »Du hast doch gesagt, du hättest damit im Garten gearbeitet, weil du vergessen hast …«
Melisande lächelte mühsam. Himmel! Sie musste etwas unternehmen, musste Katherina zum Schweigen bringen, und sie musste das Kleid erklären, musste Wendel erklären, wo ein Kleid herkam, das er noch nie gesehen hatte.
»Nein, das … das hast du ganz falsch verstanden«, stammelte sie. »Das Gewand gehört mir gar nicht.« Gütiger Gott, was sollte sie nur erzählen? »Irma hat es mir gegeben. Sie wollte Lorentz damit überraschen, und er sollte es vorher nicht sehen. Niemand sollte es wissen, und ich dumme Pute habe es fallen lassen, und dann ist noch der Hahn darüber gelaufen, und jetzt muss ich es waschen. Das ist alles.«
Niemand am Tisch kümmerte sich mehr um seine Suppe. Alle starrten Melisande an, als wären ihr soeben Hörner gewachsen. Auch Antonius war aufmerksam geworden. Etwas in seinem Blick ließ Melisande erschaudern. So eine dumme Geschichte! Und so leicht nachzuprüfen. Rasch wechselte sie das Thema. »Was ist? Schmeckt die Suppe nicht? Esst! Sonst wird alles kalt!« Sie tauchte ihr Brot in die Schale, steckte sich das Stück in den Mund und brummte genießerisch, obwohl sie einen Würgereiz unterdrücken musste, weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. »Einfach köstlich! Walburga, du bist eine hervorragende Köchin.«
»Danke, Herrin!« Walburga lief rot an, Michel und Bart lachten. Michel hörte schnell wieder auf, denn Walburga stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, woraufhin alle anderen vor Lachen losprusteten. Michel stutzte, rieb sich die Seite und stimmte erneut in das Gelächter mit ein. Eine Weile aßen sie, die üblichen heiteren Gesprächsfetzen flogen hin und her, und auch Melisande entspannte sich, obwohl Wendel sie zu beobachten schien wie ein seltsames Tier. Schließlich waren alle Schüsseln geleert, Gertrud gähnte und Michel rieb sich den vollen Bauch.
Ein guter Moment, die Aufgaben für den Nachmittag zu verteilen. »Ach, Michel, bevor ich es vergesse«, sagte Melisande so beiläufig wie möglich. »Am Dach haben sich Schindeln gelöst. Kümmere dich bitte gleich darum.«
Sie wandte sich Antonius zu. »Bitte sei so gut, Antonius, und geh ihm zur Hand. Vielleicht muss er aufs Dach hinaus, dann kannst du ihn an einem Seil halten. Du bist der Stärkste hier im Haus, für dich ist es am
Weitere Kostenlose Bücher