Die Tränen der Henkerin
übergeben. Sollte mir etwas zustoßen, wird alles, was wir soeben besprochen haben, öffentlich. Ihr wisst ja, dass die freie Reichsstadt Ulm umfangreiche Beziehungen und Verbündete hat.«
»Wie Ihr wünscht.« Fussili lehnte sich zufrieden zurück. Likkius war schlau, aber nicht schlau genug. Selbstverständlich würde er alles siegeln, was Likkius ihm vorlegte, doch das würde das Leben des Kaufmanns im Zweifelsfall nicht retten. Wenn Ulrich beschloss, den Mitwisser zu beseitigen, würde das Dokument aus dem Rathaus der Stadt verschwinden. Oder gleich das ganze Rathaus. Wie leicht brach heutzutage ein Feuer aus!
Nachdem alles zur Zufriedenheit des Kaufmanns aufgesetzt, gezeichnet und gesiegelt war, nachdem ein Bote das Dokument ins Rathaus gebracht, die beiden Herren derweil gespeist und Fussili die Küche des Gastgebers gebührend gelobt hatte, setzte Likkius ein selbstgefälliges Lächeln auf. »Es ist mir eine Freude, dem ehrenwerten Grafen Ulrich III. helfen zu können und Euch zu sagen, was ich weiß. Der Mann, den Ihr sucht, stammt aus Reutlingen. Er heißt Wendel Füger und ist der Sohn des Karchers Erhard Füger.«
Ein warmes Gefühl breitete sich in Fussilis Bauch aus. Die Beute zappelte im Netz. Jetzt musste er nur noch zugreifen.
***
»Melissa!« Katherinas Stimme riss Melisande aus dem Schlaf. »Willst du nicht essen kommen? Alles ist bereit. Wir warten auf dich!«
Melisande richtete sich auf. Ach herrje! Sie musste trotz der Anspannung eingenickt sein. Mit einem Schlag fiel ihr alles wieder ein. Der Einbrecher! Der Verdacht gegen Antonius. Ob er wirklich etwas gegen sie im Schilde führte? Wendels treuer Freund! Konnte das sein? Sie musste herausfinden, ob er während der ganzen Messe in der Kirche gewesen war. Nach dem Essen würde sie Wolfgang, Bart und Michel unauffällig befragen. Die drei hatten hinter Antonius gestanden, sie mussten ihn also gesehen haben.
»Melissa? Geht es dir gut?« Katherina war die Treppe heraufgekommen und stand nun in der Tür. »Sag bloß, du hast bis eben geschlafen! Ich dachte, du bist längst wieder auf. Hätte ich dich nicht wecken sollen?«
»Nein, das war genau richtig«, versicherte Melisande rasch. »Ich habe nur geruht.« Sie erhob sich aus dem Bett und sah ihre Schwiegermutter prüfend an. »Du hast doch nicht …«
»Ich habe unser kleines Geheimnis nicht verraten.« Katherina lächelte. »Aber du solltest dafür sorgen, dass das Dach schnellstmöglich in Ordnung gebracht wird. Dieser vorwitzige Vogel hat mich zu Tode erschreckt.«
Gemeinsam stiegen sie hinab in die Stube, wo sie bereits erwartet wurden. Der Tisch war gedeckt, alle waren vollzählig versammelt. Gertrud saß wie immer auf Selmtrauds Schoß und winkte ihrer Mutter freudig entgegen. Ihr Anblick versetzte Melisande einen Stich. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. Sollte ihr Widersacher es wagen, Gertrud etwas anzutun oder sie auch nur in Gefahr zu bringen, würde er es nicht mit der braven Kaufmannsgattin Melissa Füger zu tun bekommen, sondern mit dem Henker von Esslingen.
Als sie auf ihren Platz glitt, fing sie Wendels besorgten Blick auf.
»Geht es dir gut, Liebste?«, fragte er.
»Alles bestens«, versicherte sie. »Es war so stickig in der Kirche. Kaum war ich draußen, ging es mir besser. Allerdings hat deine Mutter darauf bestanden, dass ich trotzdem ein wenig ruhe. Jetzt bin ich so frisch, dass ich eine ganze Fuhre Wein aus dem Burgund allein entladen könnte.« Um ihre Worte zu untermalen, rieb sie sich die Hände.
Wendel strich ihr zärtlich über das Gesicht. »Wenn du auch nur ein Fass anrührst, bekommst du es mit mir zu tun.«
Sie hob eine Augenbraue. »War das eine Drohung?«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
Sie senkte in gespielter Demut den Kopf. »Dann tue ich, was Ihr befehlt, Herr.«
»Recht so.« Er klatschte in die Hände. »Walburg, wo bleibt das Essen? Sollen wir alle verhungern?«
»Nein, Herr! Sofort, Herr!« Die Köchin sprang auf, holte den dampfenden Suppentopf herbei und begann, die Schalen zu füllen.
Kaum hatte sie Platz genommen, faltete Wendel die Hände und senkte den Kopf. Als die anderen am Tisch es ihm gleichtaten, räusperte er sich und sprach das Tischgebet. »Gütiger Gott! Dir sei Dank für Speis und Trank. Dir sind wir überantwortet von heute bis in alle Ewigkeit. Möge deine Güte alle Herzen erfüllen, alle Sorgen vertreiben und uns nicht fehlgehen lassen.«
Erstaunt bemerkte Melisande, dass Wendel ein anderes Gebet gewählt
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