Die Tränen der Henkerin
der Vorteil, wenn die Knechte nicht allzu schlau waren; sie machten sich keine überflüssigen Gedanken über Dinge, die sie ohnehin nicht verstanden. Aber was bedeutete das? Hatte Antonius tatsächlich einen Komplizen? Oder steckte doch jemand anderes dahinter?
Seufzend trat Melisande vor das Haus. Unruhig blickte sie die Straße auf und ab. Antonius hatte das Dach gemeinsam mit Michel im Handumdrehen ausgebessert. Dennoch war er jetzt glücklicherweise nicht im Haus. Als sie über den Briefen saß, hatte sie gehört, wie er Wendel darum gebeten hatte, ausreiten zu dürfen. Er würde ihr also nicht hinterherspionieren, wenn sie zu Irma ging. Fragte sich nur, wo sein Komplize steckte.
Auf dem Weg zu ihrer Freundin sah Melisande immer wieder über ihre Schulter, doch sie konnte niemand Verdächtigen ausmachen. Sei nicht albern, ermahnte sie sich selbst. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, nur so konnte sie gegen ihren unbekannten Widersacher etwas ausrichten. Wenn sie in Panik ausbrach, würde er ein leichtes Spiel mit ihr haben. Es war nichts Verwerfliches daran, dass sie ihre Freundin besuchte. Viel drängender erschien ihr die Frage, welchen Gegenstand aus ihrer Vergangenheit ihr Feind als Nächstes in ihr Haus bringen würde.
Irma saß mit dem schlafenden Friedel im Arm im Garten. Melisande betrachtete sie wehmütig. Was würde sie um Irmas sorgenlosen Frieden geben! Und jetzt zog sie ihre Freundin auch noch in das Lügengespinst hinein, aus dem ihr Leben bestand. Sie küssten sich auf die Wangen.
Melisande hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. »Irma, vertraust du mir?«
»Selbstverständlich. Warum fragst du?« In Irmas Augen blitzte unschuldige Neugier.
Melisande nahm ihre Hand. »Tust du mir einen Gefallen? Wenn irgendjemand dich nach einem blauen Kleid fragen sollte, dann antworte, dass das niemanden etwas angeht und dass er sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten scheren soll.«
»Ein Geheimnis?« Irma machte eine verschwörerische Miene.
Melisande entspannte sich. Irma war wie ein junges Kätzchen. Alles was sie sah oder hörte, war für sie ein Spiel. Und wenn es um ein Geheimnis ging, war sie doppelt eifrig. Was für eine Ironie! Der letzte Mensch, der ihr noch blind vertraute, war eine naive junge Frau, die von den Schattenseiten des Lebens wenig wusste. Aber Irma war aufrichtig und verlässlich, und nur darauf kam es an. »Ja!«, erwiderte sie leichthin. »Ein Geheimnis, das nur uns beide etwas angeht. Und wenn es so weit ist, werde ich dich einweihen.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.« Irma drückte Melisandes Hand. »Was immer es ist, du bist meine Freundin. Wir beide sind unzertrennlich.«
Melisande lächelte. »Ach Irma, was würde ich nur ohne dich machen!«
»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Irma und spitzte die Lippen.
In Gedanken versunken schlenderte Melisande nach Hause zurück. Sie dachte gerade darüber nach, wie sie Antonius am besten auf die Schliche kommen konnte, als sie ihn erblickte. Er kam ihr vom Waldtor her entgegengeritten und saß ab, als er sie sah.
Sie versuchte, sich nichts von ihren düsteren Gedanken anmerken zu lassen. »Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Ritt, Antonius.«
»Ja, danke, Herrin.« Er verneigte sich.
Melisandes Blick glitt über seine Kleidung, die Stute, den Sattel. Sie wusste selbst nicht, wonach sie suchte, wohl nach einem Hinweis darauf, dass er etwas anderes getan hatte, als das, was er zu tun vorgegeben hatte. Dass er von einem geheimen Treffen mit seinem Komplizen zurückkehrte. Doch sie erblickte nichts, was ihr verdächtig erschien.
»Auf ein Wort, Herrin.« Wieder verneigte er sich.
So viel Höflichkeit nach all der Kälte? Was war in ihn gefahren? »Worum geht es, Antonius?«
»Herrin, ich möchte Euch etwas beichten.« Er blickte verlegen zu Boden. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen.«
»Nur zu, ich höre.« Trotz seiner offenkundigen Zerknirschtheit blieb sie misstrauisch.
Antonius senkte den Blick. »Erhard Füger … mein Herr … hat mich hierhergeschickt, um Zwietracht zwischen Euch und Wendel zu säen«, stammelte er.
Melisande schnappte nach Luft. Deshalb hatte er sich so seltsam benommen! Bevor sie wütend werden konnte, erkannte sie, welche Überwindung ihn dieses Eingeständnis kosten musste, und sie schluckte die Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag.
»Seine Gemahlin ahnt zwar etwas«, beeilte sich Antonius zu ergänzen. »Aber sie weiß nichts. Die Herrin
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