Die Tränen der Henkerin
leichtesten.«
Antonius blieb nichts anderes übrig, als höflich zu nicken. Gut so! Damit war der Leibwächter erst einmal außer Gefecht gesetzt. Dass er dabei helfen sollte, den Schaden zu beheben, den er womöglich selbst angerichtet hatte, erfüllte sie mit Genugtuung. Jetzt musste sie nur noch dafür sorgen, dass auch Wendel eine Weile beschäftigt war, damit sie zu Irma laufen und sie einweihen konnte, bevor jemand auf die Idee kam, sie auf das blaue Kleid anzusprechen. »Und du, Wendel, wärest du so gütig und würdest die Briefe nach Ulm noch einmal durchsehen? Sie sind zu wichtig, als dass wir uns einen Fehler leisten könnten.«
Wendel legte das, was von seinem Stück Brot noch übrig war, zur Seite. Das meiste hatte er zwischen den Fingern zerrieben. »Natürlich. Ich erledige das, bevor ich zur Zunftversammlung gehe.«
Melisande gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, Liebster.«
Sie atmete erleichtert durch. Der Nächste, der ihr nicht in die Quere kommen konnte. Nach dem Essen würde sie Katherina bitten, sich um Gertrud zu kümmern. Wolfgang würde sie anweisen, mit Bart die Ferkel zu untersuchen, ob sie auch gesund waren. Das hatten sie zwar erst gestern getan, aber die beiden würden ihre Anweisungen nicht hinterfragen. Selmtraud musste ohnehin am Neckarufer die Laken waschen, und Walburg war wie immer in der Küche beschäftigt und würde dabei von Berbelin unterstützt werden. Während sich alle ihren Pflichten widmeten, konnte sie unbemerkt zu Irma eilen und sie einweihen. Damit hatte sie zumindest ein Problem aus der Welt geschafft.
***
Antonius galoppierte an und genoss den Wind, der in sein Gesicht peitschte und seinen Zopf flattern ließ. In Wendels Haus konnte er kaum noch atmen. Hatten ihn bis zum Morgen noch Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Erhard Fügers Vorhaben gequält, waren alle seine Vorbehalte ausgeräumt, seit diese Metze beim Lügen erwischt worden war. Obwohl es offensichtlich war, hatte niemand auch nur ein Wort darüber verloren, nicht einmal Wendel. Sein Freund und Schutzbefohlener stand unter dem Bann dieser Hexe und der gesamte Hausstand mit ihm. Es war gar nicht nötig gewesen, diese Irma zu befragen. Zudem war Melissa bestimmt nach dem Essen sofort zu ihr geeilt, um sie genauso zu verhexen wie ihre Familie. Deshalb hatte sie auch dafür gesorgt, dass alle beschäftigt waren. Sehr schlau eingefädelt!
Antonius verzog das Gesicht. Ihn hatte es besonders schlimm getroffen. Dieser Tölpel Michel hatte sich so dumm angestellt, dass er am Ende die Schindeln selbst verlegt hatte. Melissa misstraute ihm, das war nicht zu verkennen. Und daran war er selbst schuld. Aber er war kein Heuchler oder Speichellecker, er war ein Krieger, der es gewohnt war, dem Gegner Aug in Aug gegenüberzustehen.
Nachdem er das Dach repariert hatte, hatte er sich bei Wendel und Katherina abgemeldet und behauptet, er müsse sein Pferd bewegen. Das war natürlich ein Vorwand; er musste zu seinem Herrn, der sicher schon ungeduldig auf Nachricht wartete. Sie hatten einen Treffpunkt vereinbart, der südlich von Rottweil an einer Wegkreuzung lag. Einer von Erhard Fügers Männern würde dort jeden Nachmittag warten.
Ohne Zwischenfälle erreichte Antonius die Wegkreuzung, und kaum hatte er sein Pferd angehalten, löste sich auch schon Meister Oswald aus dem nahen Waldsaum. Er hatte sich gut versteckt, sodass Antonius ihn zuvor nicht bemerkt hatte.
Antonius saß ab und führte sein Pferd am Zügel, folgte dem altgedienten Kämpen in den Wald. Wortlos bahnten sie sich einen Weg durch das Unterholz, und nach wenigen Minuten öffnete sich eine kleine Lichtung, die an einem Bachlauf gelegen war. Ein perfekter Lagerplatz.
Erhard Füger saß bei der kalten Feuerstelle und sprang auf, als die beiden Männer sich näherten. Er schlug Antonius auf die Schulter. »Wie sieht es aus, Antonius? Gibt es Neuigkeiten aus Rottweil?«
»Die gibt es in der Tat, Herr.« Antonius verzog das Gesicht. »Ich fürchte, wir müssen uns beeilen. Ich bin mir sicher, dass Melissa einen Verdacht gegen mich hegt. Außerdem ist heute etwas Merkwürdiges geschehen: In der Schlafkammer ist ein völlig verdrecktes Gewand aufgetaucht, dessen Existenz sie nicht erklären konnte. Sie hat Wendel eine hanebüchene Geschichte aufgetischt und sich dabei in Widersprüche verwickelt.«
»Was ist deine Erklärung dafür?«
»Das leere Versteck. Das Kleid muss sich darin befunden haben. Deswegen war es auch so schmutzig. Es hat etwas
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