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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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ihre schmale Taille. Er schob ihre Haube zur Seite und küsste sie in den Nacken. »Soll ich versuchen, Gertrud hinzulegen? Sie schläft schon fast«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Dann hätten wir Zeit für uns.«
    Er spürte, wie Melissa erschauderte. »Mitten am Tag?«, wisperte sie. »Bist du verrückt, Wendel? Was ist, wenn die anderen früher zurückkommen?«
    »Wen schert es?« Er küsste sie wieder und erhob sich. »Ich bin gleich zurück.«
    Er hatte noch nicht die Treppe erreicht, als es klopfte. Er seufzte, lief zur Tür und öffnete. Ein Junge, den er nicht kannte, hielt ihm ein graues linnenes Bündel entgegen.
    »Für Melissa und Wendel Füger.« Er stockte, schien nachzudenken. »Mit besten Grüßen von einem alten Bekannten.«
    Kaum hatte Wendel danach gegriffen, rannte der Junge los, als sei der Teufel hinter ihm her.
    Auf Melissas fragenden Blick hielt Wendel das graue Leinen in die Höhe. Auf seinem Arm schlief Gertrud, nicht einmal das laute Klopfen hatte sie geweckt.
    »Was war das denn?« Melissa lief zur Tür und spähte hinaus.
    »Siehst du etwas?«, fragte Wendel.
    Sie schloss die Tür und drehte sich zu ihm um. »Der Junge ist weg. Ansonsten ist es ungewöhnlich still draußen. Es sind kaum Menschen unterwegs. Und die Jubelschreie sind verstummt. Vermutlich hält der Graf gerade seine Ansprache.«
    Wendel drückte ihr das Bündel in die Hand. »Mach du es auf.«
    Sie zögerte.
    »Nun, mach schon«, wiederholte er, obwohl sich ein ungutes Gefühl in seinem Bauch ausbreitete. Vielleicht wäre es besser, diese seltsame Gabe einfach zu verbrennen. Wer wusste, was dieser Bengel ihnen da vorbeigebracht hatte. Von einem alten Bekannten – wer mochte das nur sein?
    Melissa nahm das Bündel entgegen und wog es in der Hand. Wendel legte Gertrud behutsam auf die Bank. Etwas sagte ihm, dass es wichtig war, die Hände frei zu haben.
    Melissa hatte sich ein wenig von ihm abgewandt, um das graue Leinen auseinanderzufalten. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der in ein leises Stöhnen überging. Das Bündel entglitt ihren Fingern, fiel auf den Boden und gab seinen Inhalt preis.
    Wendels Blick fiel auf den Gegenstand. Entsetzt sprang er einen Schritt zurück, taumelte, stechender Schmerz fuhr durch seinen Körper, sein Herz schlug wild. Nein! Das war unmöglich! Der Teufel leibhaftig musste das geschickt haben! Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. Noch immer lag es zwischen ihnen auf dem Boden. Das Gewand eines Henkers. Zweifellos. Nein, nicht das Gewand irgendeines Henkers, sondern das des Henkers von Esslingen. Er hätte es unter Tausenden von Gewändern erkannt, so lebhaft war es ihm in Erinnerung.
    Ihm brach der Schweiß aus. Diese Nachricht war für ihn bestimmt. Jemand wollte ihn quälen. Ihn daran erinnern, dass Ottmar de Bruce noch eine Rechnung mit ihm offen hatte. Noch aus dem Grab heraus hatte der Graf Macht über ihn. Irgendwer führte zu Ende, was dieser begonnen hatte.
    Auch Melissa war totenbleich. Kein Wunder! Das Gewand eines Henkers galt als unrein, wer es berührte, wurde als besudelt angesehen. Bestimmt war sie beim Auswickeln mit den Fingern an den Stoff gestoßen.
    »Hast du es angefasst?«, fragte er leise.
    Melissa schien ihn nicht gehört zu haben.
    »Liebste, hast du das Gewand angefasst?« Er trat zu ihr, darauf bedacht, nicht auf den Boden zu blicken. Er musste sie beruhigen, ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Der Henker hatte ihn berührt, als er ihm bei der Flucht geholfen hatte, und es war nichts Schreckliches geschehen. »Es ist nicht schlimm, wenn du es in die Hand genommen hast, Liebste, glaub mir. Es ist nur ein dummer Aberglaube.«
    Melissa blickte auf. Wendel erschrak. Ihr Gesicht war weiß, die Augen lagen tief in den Höhlen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie flüsterte etwas, das Wendel nicht verstand. Dann sprach sie lauter. »Ich habe es angefasst«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Wieder und wieder.« Sie sah ihn an, schaute ihm in die Augen. »Mehr noch, Liebster, ich habe es getragen.«
    Wendels Kehle entrang sich ein gurgelnder Laut. Er musste sich verhört haben. Bestimmt war Melissa verwirrt. Sie war nicht sie selbst, schon seit Tagen nicht. Sie war krank, das war es. Sie war krank. »Melissa, du solltest dich ausruhen«, sagte er sanft. »Ich sorge derweil dafür, dass das hier …« Er deutete mit dem Fuß auf das bunte Gewand. »… dass das verschwindet. Ruh dich aus, und vergiss, dass du es je gesehen hast.«
    Sie

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