Die Tränen der Henkerin
hässliches, hohles Lügengebäude.
Als Melissa sich ebenfalls erhob und auf ihn zutrat, wich er zurück. »Fass mich nicht an, du verlogene Metze!«
»Aber Wendel!«, flüsterte sie.
»Kein Wort mehr!«, gab er zurück. »Du hast genug gesagt. Ich will kein Wort mehr hören. Ich war blind und einfältig. Doch ich bin fähig, aus meinen Fehlern zu lernen.« Er lachte bitter auf. »Letztlich hatte mein Vater also doch Recht. Ich hätte auf ihn hören sollen.«
»Nein!«, wisperte sie. »Bitte, Wendel, versteh doch!«
»Ich verstehe sehr gut, Melissa, oder besser: Melisande.« Er kniff die Augen zusammen. »Oder wie möchtest du gern genannt werden?«
Sie öffnete den Mund, doch er gebot ihr mit der Hand Einhalt. »Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich habe nicht vor, deinen Namen – einen deiner Namen – je wieder in den Mund zu nehmen. Ab heute gehörst du nicht mehr zu meinem Leben.«
»Was hast du vor, Wendel?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Er beugte sich über Gertrud und hob sie sanft von der Bank. Sie gluckste und kuschelte sich an ihn. »Ich bringe meine Tochter in Sicherheit.«
»Aber …« Noch immer liefen ihr Tränen über die Wangen, doch sie rührten ihn nicht. Eine Hexe wie sie beherrschte mit Sicherheit die Kunst, falsche Tränen zu weinen.
»Verlass mein Haus!« Wendels Hals wurde eng bei diesen Worten, doch er verscheuchte die Erinnerungen, die ihn bestürmten: Melissa, wie sie ihn in der Huserhütte besuchte, ihr Lächeln, ihre Küsse. Er schüttelte den Kopf. Das alles gab es nicht mehr. Schlimmer noch: Es war nie etwas anderes als ein Trugbild gewesen. »Geh, und kehr nie wieder zurück! Solltest du dich jemals wieder in meinem Haus blicken lassen, werde ich dafür sorgen, dass du die gerechte Strafe für deine Schandtaten erhältst.« Er drückte Gertrud fester an sich. »Ich werde zur Hochturmkapelle gehen und für dich beten. Wenn ich zurückkehre, bist du fort. Sonst rufe ich die Büttel.«
D IE
E NTFÜHRUNG
Melisande fühlte sich ganz benommen. Was war geschehen? Wendel … Gertrud … War sie nicht eben noch mit ihrer Familie glücklich gewesen? Am liebsten wäre sie auf der Stelle gestorben. Sie hatte keine Kraft mehr, sie wollte nicht schon wieder fliehen. Nein, sie wollte die Augen schließen und für immer vergessen. Sie stöhnte leise. Nein, um Gertruds willen musste sie leben und für das Kind, das in ihr heranwuchs. Sie presste die Handflächen gegen ihre Schläfen. Es war das Furchtbarste eingetreten, was sie sich hatte vorstellen können. Obwohl sie damit gerechnet hatte, dass Wendel mit ihrer Vergangenheit nicht leben konnte, hatte sie wider jede Vernunft gehofft, er würde sie verstehen und ihr vergeben. Wie dumm sie gewesen war! Sie hätte ihn in dem Glauben lassen sollen, dass sie dieses Gewand nie zuvor gesehen hatte. Dann wäre er jetzt hier bei ihr. Doch wie lange noch? Einen Tag, einen Monat? Hätte das ihre Liebe gerettet?
Nein. Melisande schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wenn sie weiter gelogen hätte, hätte sie damit die Stunde der Wahrheit nur hinausgezögert. Sie hätte immer neue Lügen und Ausreden erfinden müssen und sich dabei jedes Mal erbärmlicher gefühlt.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie durfte nicht weiter tatenlos hier herumstehen. Wendel würde in seiner blinden Wut und Verzweiflung nicht zögern, sie tatsächlich den Bütteln zu übergeben, und dann wäre sie verloren. Sie musste ihm Zeit geben, Zeit, das Unbegreifliche zu begreifen. Ja, er brauchte Zeit. Sie würde fortgehen, wie er es verlangt hatte. Aber nicht weit. Sie würde da sein, ein Auge auf ihn und Gertrud haben, und darauf warten, dass er ihr verzieh.
Rasch warf sie das Henkersgewand ins Feuer und sorgte dafür, dass es gut brannte. Einen Augenblick lang verspürte sie so etwas wie Wehmut. Es waren nicht nur schlechte Erinnerungen, die sie mit diesem Kleidungsstück verband. Sie dachte an Raimund, an seine gütigen Augen, schlug das Kreuz und sprach ein kurzes Gebet für ihn. Dann eilte sie in die Schreibstube, packte Tintenfass, Federn, Schaber und einige gebrauchte Pergamentbögen zusammen. Aus der Schlafkammer holte sie ein zweites Kleid, einen Umhang und eine Gugel. Nach kurzem Zögern entnahm sie der Geldtruhe einen Beutel, in dem sich knapp drei Pfund Silber befanden, genug Geld, um einige Monate zu überleben. Jetzt noch ihr Messer und eine kleine Wegzehrung. Als sie alles in einem Bündel zusammengerafft hatte, hielt sie kurz inne. Das Haus war
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