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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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schüttelte den Kopf. »Wendel, ich kann dieses Gewand nicht vergessen. Es ist meins, es ist ein Teil von mir. Mein Leben, meine Vergangenheit.« Sie seufzte. »Es wird Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Ich hätte sie dir längst erzählen sollen.«
    Wendels Magen krampfte sich zusammen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, presste er hervor. »Du bist ja ganz durcheinander.«
    »Wendel«, wiederholte sie. »Du musst es wissen. Sonst finden wir niemals Frieden.«
    In Wendels Kopf rauschte es, sein Herz raste, seine Zunge verweigerte ihm den Dienst, also nickte er nur.
    Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zum Tisch. Sie setzten sich neben Gertrud, die immer noch friedlich schlief. Am liebsten hätte Wendel mit ihr getauscht. Schlafen, einfach nur schlafen und nichts hören und sehen, wie köstlich musste das sein!
    Melissa ließ seine Hand nicht los. »Mein Name ist nicht Melissa«, begann sie. »Ich bin Melisande Wilhelmis, geboren in der freien Reichsstadt Esslingen, Tochter des ehrenwerten Kaufmanns Konrad Wilhelmis und Tochter der Beata Wilhelmis, der wundervollsten Mutter, die es je gegeben hat. Ich bin die Schwester von Rudger Wilhelmis, der allein zehn Feinde besiegte, und von Gertrud Wilhelmis, die ich nicht schützen konnte. Und ich bin die Schwester eines namenlosen Bruders, der ungetauft starb. Sie alle wurden von Ottmar de Bruce ermordet.« Sie hielt einen Augenblick inne.
    Wendel wagte nicht zu atmen. Er hatte das Gefühl, von einem Strudel mitgerissen zu werden, zu ertrinken. Was erzählte Melissa da? Wer war diese Melisande? Herr, gib, dass das alles nur ein böser Traum ist!
    »Der Henker Raimund Magnus rettete mir das Leben, deshalb wuchs ich in seinem Haus auf und erlernte sein Handwerk. Als er krank wurde und sein Lager nicht mehr verlassen konnte, wurde ich zum Henker von Esslingen.« Sie holte tief Luft. »Ich bin Melchior, der stumme Henker, der dich gefoltert hat und dir dann zur Flucht verhalf.« Sie drückte seine Hand, bevor sie flüsterte: »Es tut mir so leid, Liebster.«
    Sie hielt einen Moment inne, und Wendel wünschte sich, sie möge für immer schweigen, möge dieses aberwitzige Geschwätz beenden. Was sie erzählte, konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein. Niemals. Sie wollte ihn quälen, sicherlich, doch warum? War sie irr geworden?
    Als er nichts sagte, fuhr sie fort: »Als ich aus Esslingen fliehen musste, wurde ich zu Mechthild, der Magd, die auf dem Fronhof bei Hülben ein neues Zuhause fand, als Heilerin den Menschen half und dafür als Hexe mit dem Tod durch das Feuer bestraft werden sollte. Statt meiner fanden zwei gütige, gottgefällige Menschen den Tod, die mich als ihre Tochter angenommen hatten.« Melissa redete immer schneller, immer lauter, so als hätte sie Angst, nicht rechtzeitig fertig zu werden. »Und ich war auch Merten de Willms, dessen Dokumente ich an mich nahm, nachdem der echte Merten bei einem Überfall getötet wurde.« Ihre Stimme wurde wieder leiser. »Und zu guter Letzt war ich auch der Henker in Urach, der Ottmar de Bruce unter dem Richtschwert hatte und der so endlich die Rache für seine Familie hätte vollenden können. Der es jedoch nicht tat, weil es Sünde gewesen wäre. Im Wald traf ich de Bruce wieder; Gott schickte ihn mir ein zweites Mal, und diesmal tötete ich ihn in einem gerechten Zweikampf.«
    Sie nahm Wendels Hand und hielt sie an ihre Wange. »Danach schloss ich mit allem ab, was geschehen war, und kehrte als Melissa de Willms zu dem Mann zurück, den ich liebe. Doch es scheint, als gäbe es jemanden, für den die Vergangenheit noch nicht begraben ist.«
    »Du …« Wendel zog seine Hand zurück und drückte sich mühsam von der Bank hoch. Er wankte, als hätte er einen großen Krug Wein geleert. Allmählich ergaben Melissas Worte in seinem Kopf einen Sinn: Seine Gemahlin war nicht die, für die sie sich ausgegeben hatte. Sie war jemand ganz anderes. Sie hieß nicht einmal Melissa. Sie hatte getötet und gefoltert. Sie hatte ihn belogen, ihm etwas vorgespielt. Wer wusste, ob sie nicht auch jetzt log. Vielleicht stimmte ja auch diese Geschichte nicht. Doch wie könnte sie sich etwas so Schreckliches ausdenken? Sie musste vom Teufel besessen sein! Ein Henker! Er war mit einem Henker verheiratet!
    Ihm wurde übel. Sein Blick fiel auf das Gewand, das noch immer auf dem Boden lag. Es gibt keine Melissa, es gibt nur den Henker von Esslingen. Nichts als Lug und Trug! Meine Ehe, meine Familie, das alles ist ein

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