Die Tränen der Henkerin
der Geburt mehr Ärger bereiteten als Töchter?
Nein, er hatte wirklich keinen Grund zur Klage. Der einzige Schatten in seinem Leben war sein Vater, der einfach nicht einsehen wollte, dass Melissa das Beste war, was seinem Sohn je passiert war. Allerdings … die Sache mit den verrutschten Dachschindeln war merkwürdig. Er hatte sich den Schaden angesehen, bevor Antonius und Michel ihn repariert hatten. Die Schindeln hatten sich nicht einfach bei starkem Wind gelöst. Da hatte eine menschliche Hand nachgeholfen. Er wusste, dass Melissa manchmal heimlich auf den Dachboden stieg und eine Schindel beiseiteschob, um auf die Straße hinabzusehen, obwohl sie das genauso gut vom Fenster ihrer Schlafkammer aus tun konnte. Er hatte keine Ahnung, warum sie das tat, doch er fand nichts Verwerfliches daran. Vielleicht wollte sie die Leute beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Doch der Schaden am Freitag war viel zu groß gewesen, als dass er davon hätte herrühren können. Es hatte eher so ausgesehen, als habe jemand versucht, auf diesem Weg in das Haus einzudringen. Ein Einbrecher etwa. Ohne Melissas Wissen hatte er daher zwei Knechte gedungen, die das Anwesen unauffällig bewachen und Alarm schlagen sollten, falls sich jemand ungebeten Einlass verschaffen wollte. Heute hatte er sie zu besonderer Aufmerksamkeit ermahnt.
Sie erreichten die Hochbrücktorstraße, zu deren Seite sich die Stadtwachen aufgestellt hatten. Mit Mühe und Not hielten sie die Menschen zurück, die sich den Hals verrenkten, obwohl der Graf noch gar nicht angekommen war. Wendel und seine Familie drängten sich durch die Menge.
»Wäret Ihr wohl so freundlich …« Sanft schob Wendel einen alten Mann zur Seite.
Der Alte funkelte ihn wütend an. »Heda, nicht vordrängeln!«
»Ich möchte meine Familie nur zu ihrem rechtmäßigen Platz geleiten«, erklärte Wendel höflich. Jede Zunft hatte ihren eigenen Bereich, zu dem nur die Mitglieder und ihre Familien Zutritt hatten.
»Da könnte ja jeder kommen«, brummte der Alte, doch er hatte sich bereits wieder abgewandt.
Sie gelangten zu dem abgetrennten Bereich. Die Stelle war gut gewählt, von hier konnten sie den Vorplatz der Liebfrauenkirche ebenso überblicken wie die Straße zum Hochbrücktor, durch das der Graf einziehen würde. Eine Tribüne war aufgebaut, die Ratsherren hatten bereits ihre Sitze eingenommen; nur der Bürgermeister fehlte noch, er wartete mit einer berittenen Eskorte vor dem Tor, um den hohen Gast angemessen willkommen zu heißen.
Wendel und Melissa grüßten den frisch gewählten Zunftmeister Eugenius und nickten den anderen zu. Alle trugen ihre besten Gewänder, Eugenius’ Sohn hielt stolz das Wappenschild der Zunft hoch.
Melissa sagte etwas, aber Wendel konnte es nicht verstehen, weil der Lärm aus Hunderten von Kehlen ihre Worte übertönte. Er beugte sich zu ihr.
»Gertrud ist so unruhig!«, rief sie. »Sie fühlt sich nicht wohl in diesem Gedränge. Ich glaube, ich gehe mit ihr zum Haus zurück. Selmtraud soll ruhig hierbleiben, ich muss den Grafen nicht unbedingt zu Gesicht bekommen.«
Ich auch nicht, dachte Wendel. Er war nur seiner Familie zuliebe hergekommen, und weil es sich so gehörte, dass die Zünfte vollständig versammelt waren. Wenn er sich vorstellte, dass Ulrich III. ahnen könnte, dass in der jubelnden Menge einer stand, der ihn mit einem dreisten Betrug hinters Licht geführt hatte, wurde ihm übel. »Ich begleite dich«, sagte er und nahm Gertrud auf den Arm. »Du solltest nicht allein nach Hause gehen. Nicht, dass dir wieder schwindelig wird.«
Er sagte seiner Mutter Bescheid, die besorgt das Gesicht verzog, dann jedoch erleichtert nickte, als Melissa sie beruhigend anlächelte.
»Geht ihr nur«, sagte sie. »Ich achte darauf, dass das Gesinde euch keine Schande macht.«
Wendel blickte zu Antonius, der die Stirn runzelte, aber nichts sagte. Dann legte er seinen Arm beschützend um seine Tochter und bahnte sich und Melissa einen Weg durch die Menge.
***
Von Säckingen war der Bursche sofort aufgefallen, der sich in einer Toreinfahrt herumdrückte und das Haus der Fügers beobachtete. Besonders geschickt stellte er sich dabei nicht an; es war leicht zu erkennen, dass diese Aufgabe für ihn ungewohnt war, denn ein erfahrener Krieger oder ein geübter Einbrecher würde sich auf die Kunst verstehen, sich unsichtbar zu machen. Davon war dieser Tölpel weit entfernt. Es gab nur eine Erklärung für seine Anwesenheit: Jemand bezahlte ihn dafür, dass er
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