Die Tränen der Justitia (German Edition)
der Sache.»
«Ganz bestimmt.»
«So konnte ich ihn beruhigen. Josef überlässt nichts dem Zufall. Manchmal geht er mir mit seinen Strategien etwas auf den Nerv. Beim BHC diskutieren wir stundenlang alle Eventualitäten durch. Das ist ganz und gar nicht mein Stil. Ich lasse die Probleme lieber auf mich zukommen und suche dann nach einer pragmatischen Lösung.»
«Sie sagten bei unserem letzten Gespräch, der BHC komme nicht vom Fleck. Steht es denn sehr schlecht um den Club?»
«Leider ja. Wir rüsteten zwar in dieser Saison ziemlich auf, doch es ist wie verhext. Wir kassieren zu viele und schiessen selbst zu wenige Tore. Dabei ist das Kader gar nicht schlecht. Wenns so weitergeht, sterben wir in Schönheit und steigen in die Nationalliga B ab.»
Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Wolkendecke. Nadine und Ferrari verliessen die Bank und setzten sich beim Theater auf einen Mauervorsprung. Die ratternden, chaotisch wirkenden und doch mit System angeordneten Maschinen von Jean Tinguely faszinierten den Kommissär. Ich könnte stundenlang hier sitzen und dem Wasserspiel zusehen. Einfach genial. Der Fasnachts-Brunnen, in den Siebzigerjahren erbaut, stand an der Stelle der alten Stadttheaterbühne und bestand aus zehn, zum Teil aus Versatzstücken der ehemaligen Bühnenausstattung gebauten, Skulpturen. Jede von ihnen hatte einen Namen: dr Theaterkopf, d’Spinne, dr Waggler, d’Fontääne, dr Spritzer, dr Suuser, dr Wäädel, dr Schuufler, s’Seechter und dr Querpfyffer.
«Et voilà!»
«Danke. Wo hast du den Kaffee her?»
«Aus dem Restaurant in der Theaterpassage. Immer, wenn wir hier sind, sitzt du andächtig und vollkommen abwesend da. Du merkst gar nicht, dass ich kurz weggehe.»
«Stimmt. Dieser Brunnen ist ein Meisterwerk. Ich kann es nicht erklären … die Fontänen haben etwas Beruhigendes. Wusstest du, dass Jean Tinguely …»
«Nein, bitte keinen Exkurs in die Kunstwelt. Wir stecken mitten in einem schwierigen Fall, falls du das vergessen hast, und irgendwie kommen wir nicht weiter. Wir wissen nämlich praktisch gar nichts. Ausser, dass einige Spinner wie Kaltenbach und Heller herumlaufen, die eine Rechnung mit Borer begleichen wollen, und dass sich Lenas Entführer nicht melden, was in einem Entführungsfall doch sehr merkwürdig ist.»
«Jetzt ist es genau eine Woche her.»
«Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, Francesco. Aber wenn du mich fragst, ist Lena tot. Etwas muss bei der Entführung schiefgelaufen sein. Entweder wurde das falsche Kind entführt oder es gibt einen Grund, dass sie die Erpressung abgeblasen haben.»
«Und der wäre?»
«Das Ziel wurde anderweitig erreicht.»
«Wieso bringen sie dann das Kind um? Sie könnten es in beiden Fällen einfach vor Julias Tür legen. Ein Kind tötet man nicht einfach so, Nadine. Selbst brutale Verbrecher scheuen sich davor. Glaub mir, so jemand geht im Knast durch die Hölle. Die würden ihn gnadenlos fertigmachen.»
«Gaunerehre.»
«Ein Kindsmörder ist die unterste Stufe des Verbrechers. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es in der Schweiz einen Namensvetter von mir. Er entführte Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren, missbrauchte sie zum Teil und erdrosselte sie. In insgesamt fünf Fällen konnte seine Schuld nachgewiesen werden. Aber unser Fall ist anders, Lena ist noch ein Baby.»
«Das hat etwas für sich. Wer Lena entführt hat oder entführen liess, ist kein gestörter Sexualtäter, er ist vielmehr kaltblütig und absolut skrupellos. Da fällt mir nur ein Name ein.»
«Franz Heller.»
Borer hing noch immer lethargisch in seinem Büro herum. Wenigstens hatte er sich aufgerafft, die abgestorbenen Blätter aus seinem Pflanzendickicht zu entfernen. Doch er tat dies emotionslos und ohne Rücksicht auf Verluste. Nadine und der Kommissär setzten sich unaufgefordert und sahen dem traurigen Treiben eine Weile zu, bis Nadine der Kragen platzte.
«Hören Sie auf damit! Sofort! Das kann man ja nicht mitansehen», schrie sie und nahm ihm die Schere aus der Hand.
Borer setzte sich kommentarlos an den Tisch.
«Eine Woche! Es … Sie wissen genauso gut wie ich, was das heisst!», flüsterte er. «Lena ist tot. Zuerst dachte ich, dass man mich weichkochen will. Aber jetzt … jetzt bin ich anderer Meinung. Meine Enkelin lebt nicht mehr.»
«Unsinn! Wo verdammt noch mal ist der Borer, den wir kennen?»
«Wie … wie meinen Sie das, Frau Kupfer?»
«Sie hocken hier sinnlos in Ihrem Büro, schneiden Ihr
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