Die Tränen der Justitia (German Edition)
mich, dass Sie und Ihr Sohn sich wieder vertragen. Sie befinden sich in einer Extremsituation. Das ist nicht einfach.»
«Danke für Ihr Verständnis. Ich habe gestern Abend noch mit Jakob telefoniert und mich auch bei ihm entschuldigt.»
«Wieso denn das, Vater?»
«Es war mir ein Anliegen. Wir hatten ein gutes Gespräch! Zum ersten Mal konnten wir uns anständig unterhalten.»
«Herr Borer leidet sehr. Er denkt sogar an Rücktritt.»
«Das weiss ich. Als ich ihm erklärte, dass ich seine ewigen Angebereien nicht mehr ertrage, schien er ehrlich schockiert zu sein. Das habe er noch nie so gesehen. Dann erzählte er zum ersten Mal von sich und erwähnte eben auch seinen Rücktritt.»
«Soweit ist es aber zum Glück noch nicht. Darüber sprechen wir mit ihm, sobald wir euch Lena zurückgebracht haben.»
«Ach, Nadine! Hoffentlich kommt Lena bald nach Hause. Mir ist es egal, ob ihr die Entführer schnappt oder nicht. Wenn nur Lena wieder da ist.»
Das Wetter schien an der Entwicklung des Falls Gefallen zu finden. Beim Verlassen des Hauses erwartete sie ein strahlend blauer Himmel. Ferrari humpelte Richtung Zoologischer Garten.
«Ausgerechnet jetzt, wo ich Mühe mit dem Laufen habe, musst du deinen Karren in den Service bringen.»
«Tja, das braucht es halt ab und zu. Ich bin auch nicht begeistert, dass wir hier in der Gegend herumwatscheln.»
«Wieso das denn?»
«Wegen meinen Schuhen.»
«Was ist damit?»
«High Heels sind nicht zum Wandern geeignet.»
Ferrari sah auf Nadines Füsse. Wie kann sie nur in solchen Schuhen laufen? Da muss frau doch umknicken.
«Bevor du mir einen Vortrag hältst, ja, ich kenne die gesundheitlichen Risiken von Muskelüberlastung, schlechter Durchblutung bis hin zum Hallux. Wusstest du, dass es High-Heels-Läufe gibt?»
«Echt?»
«In Moskau findet jedes Jahr ein Stöckelschuhrennen statt. Die Frauen müssen fünfzig Meter rennen ohne umzufallen. Und in Zürich findet Anfang Juni ein Weltrekordversuch statt, der Stilettolauf. Nehmen mehr als dreihundertachtzehn Läuferinnen in High Heels teil, die achtzig Meter rennen, steht der Rekord. Das Ganze ist für einen guten Zweck, ein Teil des Startgeldes kommt nämlich Betroffenen aus dem Menschenhandel zugute.»
Der Kommissär schüttelte unablässig den Kopf. Sachen gabs.
«Normalerweise ziehe ich diese Schuhe auch nicht zur Arbeit an, aber heute Abend gehe ich nochmals aus.»
«Mit Yvo!», rutschte es Ferrari heraus.
«Mit Viviane, da du ja sonst sowieso keine Ruhe gibst. Zu Yvo schlüpfe ich dann gegen Ende Woche wieder unter die Decke. Er ist nämlich heute früh nach New York geflogen. So, mehr erfährst du nicht aus meinem Privatleben.»
Ferrari änderte kurzfristig seinen Plan. Statt ins Kommissariat zurückzukehren, fuhren sie mit dem Tram in die Innenstadt. Die ersten Sonnenstrahlen zogen viele Menschen ins Freie, obwohl es höchstens fünfzehn Grad hatte.
«Draussen oder drinnen?»
«Lieber drinnen.»
Im Café Huguenin setzten sie sich ans Fenster und tranken einen Kaffee.
«Geisser wird jetzt bei Heller sein. Hoffentlich hat er uns danach etwas zu erzählen.»
«Wenn er mit offenen Karten spielt», gab der Kommissär zu bedenken.
«Glaubst du, dass er ein doppeltes Spiel treibt?»
«Ich bin mir nicht sicher. Mein Bauch sagt nein, mein Gehirn sagt ja.»
«Du bist mit deinem Bauchgefühl nie schlecht gefahren.»
«Stimmt. Bald wissen wir mehr. Der überfallmässige Besuch von Röbi geht mir einfach nicht aus dem Kopf.»
«Der dreht total durch. Er wird zur Gefahr für Viviane. Sie zuckte gestern Abend jedes Mal zusammen, wenn sich die Tür öffnete. Das ist kein Leben.»
«Das Paradoxe an der Situation ist, dass niemand einschreitet, solange er nicht zu weit geht. Es muss also zuerst etwas passieren, bevor Georg reagieren kann.»
«Der Richter wird ihn bestimmt dazu verdonnern, dass er sich Viviane nur auf hundert Meter nähern darf.»
«Glaubst du wirklich, er wird sich daran halten?»
«Wahnsinn! Wir schauen also zu, wie er Viviane terrorisiert, sie sogar schlägt. Na, wunderbar. Aber nicht mehr lange.»
«Wie meinst du das?»
«Was?»
«Du hast nicht mehr lange gesagt.»
«Wirklich? Das musst du falsch verstanden haben. Ich hoffe, dass er zur Vernunft kommt. Du bist ja schliesslich nicht zimperlich mit ihm umgegangen.»
«Womöglich wirfst du mir das jetzt auch noch vor?»
«Überhaupt nicht. Monika gibts zwar nicht zu, aber du hast sie extrem beeindruckt. Sie schwärmt in den höchsten
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