Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
überfüllt.
Tatsächlich brauchte Kevin denn auch mehrere Stunden,um überhaupt herauszufinden, wo man die blinde Mevrouw VanStout und ihre kleinen Söhne untergebracht hatte. Zu seinem Entsetzen existierten keinerlei Belegungspläne, niemand wusste genau, wie viele Familien und Einzelpersonen in Karenstad lebten und wo jede einzelne Familie zu finden war. Lediglich die Anzahl der Toten wurde registriert, und es waren erschreckend viele. Überhaupt schien alles, was den Tod anging, in diesem Lager noch am besten organisiert. Es gab einen Totengräber, einen Tischler, der primitive Särge zusammenhämmerte, und einen Fotografen, der Porträts der verstorbenen Kinder anfertigte. Die Väter sollten sie sehen können, wenn der Krieg vorüber war – so manche der Bilder mochten jetzt schon in die Hände der noch kämpfenden Burenkommandos geraten … Lord Kitchener musste herzlos oder einfach dumm sein, wenn er annahm, dass dies die Männer zur Kapitulation zwingen würde. Im Gegenteil, die Zustände in den Lagern schürten die Wut.
Nun führte Kevin die schweigenden VanStout-Schwestern über die schlammigen Wege zwischen den langen Reihen ehemals weißer runder Zelte. Jedes davon war für fünfzehn Personen ausgelegt, allerdings für Soldaten, die hier nur schliefen. An Familien, die kochen und sich auch tagsüber dort aufhalten mussten, war bei der Raumaufteilung nicht gedacht worden. Nichtsdestotrotz verlangte die Lagerorganisation Vollbelegung der Zelte, was obendrein bedeutete, mehrere Familien gemeinsam unterzubringen. Mindestens zwei, häufiger drei Frauen und ihre Kinder oder in ihrem Haushalt versorgte Greise teilten sich ein Zelt – meist zunächst mit stoischem Gleichmut. Im Laufe der Monate baute sich dann aber fast immer Spannung auf, die sich mitunter in heftigen Streitigkeiten entlud. Wenn das Wetter eben erträglich war, flohen die Menschen nach draußen. Auch die provisorischen Küchen waren außerhalb der Zelte aufgebaut.
»Wir wollten Gemeinschaftsverpflegung anbieten«, wandte sich Kevin beschämt an Doortje. »Aber das nahmen die Leute nicht an, irgendjemand hat ihnen erzählt, die Engländer mischten zerstoßenes Glas in den Brei, um ihre Kinder zu ermorden.«
Doortje warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Braucht’s das zusätzlich?«, fragte sie böse und wies auf eine wehklagende Mutter, deren verstorbenes Kind man eben aus einem der fliegenumschwirrten Zelte trug.
Es waren die ersten Worte, die Doortje seit ihrer Wiederbegegnung im Hospital gesprochen hatte, aber Kevin konnte sich nicht daran freuen. Das Kind war an Typhus gestorben, eine Einweisung ins Hospital hatte die Mutter verweigert. Und damit gab es nun ein weiteres Zelt, in dem sich die Krankheit vielleicht festsetzte – oder aus dem heraus die Fliegen sie weitertrugen. Der Insektenbefall war auch ein Problem, das Kevin nicht in den Griff bekam. Die Fliegen wurden von ungewaschenem Essgeschirr und schmutzigen Körpern angelockt, was man nur verhindern konnte, indem man den Frauen genügend Wasser zur Verfügung stellte. Aber an Trinkwasser haperte es, und Waschwasser konnte zwar aus dem Fluss geholt werden, aber die Wege waren weit und die Frauen oft zu schwach. Seife und Reinigungsmittel gab es kaum, schon Lindsey hatte wiederholt Beschwerde geführt, die Versorgungsstellen reagierten jedoch einfach nicht. Entsprechend schlecht war es um die Hygiene im Lager bestellt, die Frauen konnten weder sich selbst und ihre Kinder noch die Kleidung sauber halten. Letztere war auch bald verschlissen, wenn man wochenlang Tag und Nacht darin lebte. Kevin hörte, dass sich in Karenstad niemand zum Schlafen auszog.
»Die Leute schlafen auf dem Boden«, erklärte Cornelis, ebenso entsetzt wie Kevin, nachdem man ihm eine Unterkunft zugewiesen hatte. »Die meisten haben nicht mal eine Zudecke.Da wird es kalt, wenn man sich auszieht – von der Scham vor den fremden Leuten im Zelt ganz abgesehen …«
Kevin nickte und beantragte Decken und Zeltbahnen, um die Zelte zu teilen und den einzelnen Familien wenigstens ein Mindestmaß an Intimität zu ermöglichen. Vincent half schließlich mit ein paar Pferdedecken aus und riet, sie vor der Verteilung nicht zu waschen.
»Es heißt, Flöhe mögen keinen Pferdeschweiß«, behauptete er. »Vielleicht also eine kleine Hilfe gegen all das Ungeziefer.«
Kevin teilte diese Hoffnung nicht. Er hatte erschrocken festgestellt, dass alle Neuzugänge in den Lagern verfloht und verlaust waren. Ob das
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