Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
sie ihn aus dem Wasser gezogen hatten, aber zumindest einiges davon hatte für sie wie spiritueller Unsinn geklungen. Andererseits – auch Rawiri hatte fliegen wollen! Sicher würde es interessant sein zu erfahren, was er über die Form und die Flugeigenschaften von Drachen gelernt hatte. Mit der Gestalt von Richards Flugmaschine war Atamarie schließlich noch nicht vollständig glücklich.
Rawiris Augen leuchteten auf, als Atamarie ihn am Abend begrüßte und sich als Schülerin anmeldete. Sie selbst merkte es kaum, sondern interessierte sich mehr für die Form der Drachen, welche die Kinder zu den Sternen hinaufsandten, um nun wirklich Botschaften an die Götter zu verschicken. Atamarie verzog ein bisschen den Mund, als der junge tohunga sie dazu mit großem Ernst in den Gesang der passenden karakia einwies.
»Als ob sich dadurch irgendwas an den Naturgesetzen ändern würde!«, bemerkte sie ihrer Mutter gegenüber. »Wenn das Ding die richtige aerodynamische Form hat, fliegt es. Wenn nicht, dann nicht.«
Matariki lachte. »Das weiß Rawiri zweifellos genauso gut wie du. Aber sieh es mal anders: Die karakia dienen dazu, uns an die Naturgesetze zu erinnern, der Natur dafür zu danken, dass sie uns Halt gibt, aber auch Grenzen setzt.«
»Die wollen wir ja gerade überwinden«, brummte Atamarie.
Matariki schüttelte tadelnd den Kopf. »Eben hast du noch gesagt, das ginge nicht. Und es geht auch nicht, die Natur kannst du nicht besiegen. Aber natürlich kannst du sie besser begreifen und dir ihre Gesetze zunutze machen. Dabei hilft die Zwiesprache mit den Göttern – egal, ob wir manu in den Himmel schicken oder Gebete sprechen, wenn wir Heilpflanzen ernten. Das ist schon alles richtig, Atamarie, Rawiri weiß, was er tut. Vertrau ihm!«
Rawiri war sich seiner selbst keineswegs so sicher – zumindest bat er die Götter in dieser Nacht nicht um ihren Segen für seinen Lenkdrachen, sondern eher um eine Vermittlung zwischen sich selbst und Atamarie. Er wusste nicht recht, ob er es als Zufall oder Geschenk der Götter auffassen sollte, dass sie tatsächlich zurückgekommen war, um die Kunst des manu -Baus zu erlernen, aber er wusste, dass er sie liebte. Schon beim ersten Blick auf ihr leuchtendes Haar und in ihr kluges, schönes Gesicht war das warme, glückliche Gefühl wieder in ihm aufgestiegen, das er damals nach seinem missglückten Gleitflug empfunden hatte. Seitdem trug er ihr Bild in seinem Herzen, und zu seinem eigenen Traum vom Fliegen kam der Gedanke daran, sie glücklich zu machen. Alles, was Rawiri seit jenem Tag getan hatte, stand in diesem Zeichen. Er hatte eingesehen, dass es nicht genügte, mit selbst gebauten Drachen herumzuexperimentieren. Er musste bei den besten Drachenbauern lernen, er musste ein tohunga werden genau wie Atamarie! Denn das wurde sie ja wohl, wenn er ihre Mutter richtig verstanden hatte und die Männer, mit denen sie damals in Parihaka gewesen war. Atamarie lernte die Weisheit der pakeha – und Rawiri würde ihr jetzt die Weisheit der Maori schenken. Inzwischen wusste er längst, wie man manu baute und lenkte – mit zwei und mit vier Schnüren. Und er hatte von der großen Tradition seines Volkes gehört, auch riesige Drachen in die Luft zu schicken. Nach Angaben seines Lehrers hatte es vormals gewaltige manu gegeben, an denen Männer aufsteigen und mit den Winden tanzen konnten …
Rawiri selbst konnte Atamaries Besuch in seiner Werkstatt nun kaum noch erwarten. Schon vor Tau und Tag legte er Aute-Borke und Raupo-Blätter bereit sowie Manuka- und Kareao-Holz für das Gestell. Aber zuerst erschienen nur ein paar Kinder, um an ihren verschiedenen manu zu basteln. Rawiri beugte sich über ihre Arbeiten und übersah dabei, dass sich Atamarie näherte. Er fuhr auf, als er ihre Stimme hörte.
»Der Habicht, die Schwinge und das Kanu«, kommentierte Atamarie die Formen der Drachen. »Welcher fliegt denn nun am besten?« Sie hob einen manu pakau auf und betrachtete ihn kritisch. »Die Segelfläche ist ja beim Flachdrachen ganz anders als zum Beispiel …«
»Der Wind leiht dem manu seine Kraft«, erklärte Rawiri sanft. Dabei hatte er keinen Blick für den Drachen in Form der Vogelschwinge, sondern nur für Atamarie, die ihm an diesem Morgen besonders schön erschien. Sie trug das Haar offen über einem traditionell gewebten Oberteil in den Farben Parihakas, das sie mit einem weiten grünen Rock kombinierte. »Jedem Drachen. Aber der manu stiehlt dem Wind nicht die
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