Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
er entschuldigte sich mit familiären Problemen und dem Geldmangel und, und, und … Also nahm ich ihn mit zum Mount Taranaki. Dann erzählte er von dieser Farm, die er zum einundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte …«
»Die hätte er doch verkaufen können!«, erklärte Atamarie.
Der Professor hob die Hände. »Richard Pearse hätte eine Menge tun können. Aber er hat’s nicht getan. Und das ist ganz bestimmt nicht Ihre Schuld, Atamarie. Machen Sie sich nicht verrückt wegen dieser paar Tage Verzögerung. Der Mann ist ein Jahr vor den Brüdern Wright geflogen! Da hatte er reichlich Zeit, sein Flugzeug patentieren zu lassen. Wenn er’s nicht getan hat … vergessen Sie es, Atamarie. Ich gebe Ihnen jetzt erst mal einen neuen Prüfungstermin. Übermorgen. Ja, dann sind eigentlich schon Ferien, aber ich werde meine Beisitzer und Kollegen noch einmal zusammentrommeln, keine Angst. Und danach überlegen Sie sich, was Sie machen wollen. Sie sind doch vermögend, Atamarie, nicht wahr? Warum nehmen Sie nicht ein Schiff und fahren nach Europa? Da wird viel in Sachen Flugzeugbau geforscht, Sie könnten sich einbringen! Oder die Vereinigten Staaten. Suchen Sie die Wrights auf.« Dobbins lachte. »Vielleicht verlieben Sie sich ja in einen von denen. Scheinen auch schwierig zu sein. Wie’s aussieht, sind sie sich bis jetzt jedoch selbst genug.«
Atamarie zuckte die Schultern. »Ich kann sie ja kaum beide heiraten«, bemerkte sie trocken. »Und Europa … Frauen dürfen da nicht mal studieren, Professor. Jedenfalls bestimmt keine Ingenieurwissenschaften. Die Männer würden mich überhaupt nicht ernst nehmen.«
Dobbins hob die Hände. »Wissen Sie, was ein Mann an Ihrer Stelle gemacht hätte?«, fragte er. »Oder zumindest die Hälfte Ihrer männlichen Kommilitonen?« Atamarie sah ihren Professor fragend an. Dobbins verzog den Mund. »Die hätten den Ruhm für sich beansprucht. Wenn Sie geflogen wären, Atamarie … Das wäre eine Sensation gewesen! Sie hätten nicht nur die Erfindung Ihres Freundes publik gemacht, sondern auch die Sache Ihrer Geschlechtsgenossinnen um Längen vorangebracht.«
Atamarie biss sich auf die Lippen. »Aber ich hätte Richard verraten. Er wäre natürlich auch genannt worden in all den Veröffentlichungen. Sicher. Aber er hätte in der zweiten Reihe gestanden.«
Dobbins hob die Schultern. »Und so hat er Sie verraten, Atamarie. Und nun steht er ganz weit hinten. Aber daran ist nun nichts mehr zu ändern. Ich sehe Sie übermorgen, meine liebe Miss Turei. Mit klarem Kopf zur Prüfung!«
Atamarie hatte auch ihre letzte Prüfung mit Auszeichnung bestanden – nachdem sie zwei Tage lang in der Bibliothek der medizinischen Fakultät Bücher gewälzt hatte.
Atamarie las alles, was sie zum Thema Melancholie finden konnte, manche Symptome trafen auch auf Richard zu, andere nicht. Auf jeden Fall fand sie keine Anweisung dazu, wie man diese Störung heilen konnte. Der Professor hatte Recht: Mit technischem Verständnis war dem Problem nicht beizukommen.
Am Tag nach der Prüfung machte sich Atamarie folglich auf nach Parihaka und suchte seitdem spirituelle Erklärungen. Sie sprach auch Maori-Heiler an, aber die konnten ihr nicht mehr sagen, als dass man diesen Zustand der Traurigkeit kainatu nannte und die davon betroffenen Leute in Ruhe ließ. Natürlich gab es Theorien. Eine weit über Parihaka bekannte Heilerin erklärte, dass von kainatu betroffene Menschen den Blick auf nga wa o mua nicht ertragen könnten – die Zukunft, die sich aus der Vergangenheit ergab. Das Prinzip von taku und toku war höchst kompliziert und erschloss sich Atamarie nur begrenzt. Die tohunga empfahl, zunächst einmal alles über die Ahnen des Betroffenen herauszufinden, das Kanu zu beschwören, mit dem sie nach Aotearoa gekommen waren, und die Wurzel des Übels sozusagen jenseits der Zeiten zu suchen. Atamarie hätte das noch wenige Monate zuvor als Unsinnabgetan, aber jetzt dachte sie endlos darüber nach. Bis Matariki endlich ein Machtwort sprach.
»Du erscheinst mir langsam schon selbst von kainatu betroffen!«, meinte Matariki streng. »Aber nun reicht es. Warum auch immer dieser junge Mann seltsam ist – damit soll sich diese Shirley befassen. Du kommst mit mir nach Dunedin, siehst Roberta wieder und lernst Kevins junge Frau kennen. Die Berichte von deiner Großmutter, Kathleen und Violet sind da sehr widersprüchlich, wahrscheinlich gibt es in Dunedin jede Menge Klatsch. Und wir werden uns an der
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