Die Tränen der Massai
Bett. »Das sind alte Geschichten, Kokoo. Von vor langer Zeit.«
»Nein! Glaub mir, Sendeyos Fluch liegt immer noch auf uns.«
Die Sonne war verschwunden, und die Flammen des Kochfeuers glitzerten auf den Tränen in Naisuas Augen. »Die Zweitgeborene … die Zweitgeborene … das Mädchen namens Ziada – Gottesgeschenk.«
Nun verstand Malaika Kokoos intensives Interesse an ihren Geschichten aus Mwanza. »Kokoo, ist Ziada … ist sie die zweite Tochter? Willst du damit sagen, dass sie verflucht ist?«
»Verflucht? Wer weiß schon, wer die Verfluchten sind? Bin ich verflucht, da ich mit ansehen musste, wie die Menschen, die ich liebte, starben? Den Tod meiner Babys? Also weine ich um mich selbst, und ich weine um deine Schwester, die nichts Böses getan hat. Aber wenn sie von Mengorus Blut ist … oder vielleicht ist sie das Kind des Kunonomannes. Wer weiß schon, ob Kunonoblut die Dinge verändern kann? Die Geister verweigern mir dieses Wissen. Aber ich fürchte, sie ist diejenige, denn der Fluch lastet schwer auf uns.«
»Wie meinst du das?«
»Eine Seuche wütet unter unseren jungen Leuten. Es ist ein seltsamer und schrecklicher Tod.«
»Was ist es?«
»Das weiß ich nicht. Es sind nicht die Pocken. Und es ist auch nicht die Grippe. Deine
Kokoo
ist alt und nutzlos geworden«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Der Tod kommt wie in den Tagen des Hungers, aber es gibt genug zu essen.«
»Willst du damit sagen, dass sie nicht essen können?«
»Sie essen, aber sie werden dünner. Selbst Blut und Milch lässt sie nicht zunehmen. Es sind die jungen Leute. Unsere starken jungen Männer. Sie kommen nach Hause, um zu sterben. Unsere schönen jungen Frauen, einige von ihnen sind schwanger. Und die Kinder. Sie welken wie eine Blüte, die abgepflückt wurde. Und ich stehe dabei … und muss zusehen.«
»Die Abnehmkrankheit«, sagte Malaika leise. Es fühlte sich an, als wäre die Hütte um sie herum enger geworden. Sie stand auf, denn sie war plötzlich sehr müde und brauchte unbedingt frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ihr Kopf hatte angefangen zu dröhnen von dieser Mischung aus Kokoos alten Ängsten und ihrer eigenen wachsenden Erkenntnis, was mit den Massai geschah.
Die Luft, die durch die geöffnete Dachluke strömte, fiel auf ihr Gesicht, und sie schloss die Augen gegen das helle Gold des westlichen Himmels.
Sie fragte sich, wieso ihr diese Probleme nicht schon länger aufgefallen waren. Sie war eine Expertin für ländliche Gemeinden, ausgebildet, um solche Risiken zu erkennen. Hatten andere es gesehen? Allgemein betrachtet, ja. Aber verstanden sie die Umstände bei den Massai? Die Massai waren ein Sonderfall, aber das hatte offenbar niemand bemerkt. Vielleicht hatten sie nur die letzten vierundzwanzig Stunden, in denen sie wieder Massai geworden war, in die Lage versetzt, die besondere Gefahr zu bemerken, mit denen der Stamm konfrontiert war. Ihre Rückkehr in die Gemeinschaft und zu ihrer Kultur hatte ihr das ganze Ausmaß der Tragödie enthüllt.
Sie legte die Finger an ihre Schläfen und rieb sanft gegen das Pochen an. Der Himmel, den sie durch die Öffnung im Dach sehen konnte, verlor rasch sein Gold. Aschgraue Wolkenfetzen hingen über einem blutroten Horizont.
In den Jahrhunderten, die die Massai zum erfolgreichsten Stamm in Ostafrika gemacht hatten, reich an Vieh, gefürchtet im Kampf, hatte sich ihre Kultur wenig verändert. Warum auch? Die Massai prägten allem ihren Lebensstil auf. Als es ihnen nicht gelang, die weißen Eindringlinge zu besiegen, hatten die Massai sie einfach ignoriert. Ihre Kultur war unversehrt geblieben.
Mit der Zeit hatten die anderen Stämme aufzublühen begonnen und viele Ideen von den Weißen übernommen. Wieder hatten die Massai das ignoriert. Sie beurteilten das Leben in absoluten Begriffen, in Massaibegriffen, und nicht mit Hilfe von Vergleichen. Es interessierte sie nicht, dass die weltgewandteren Kenianer sie für rückständig hielten. Sie ignorierten die spöttischen Bemerkungen über sexuelle Promiskuität.
Die tragische Ironie lag, wie Malaika nun erkannte, in der Isoliertheit des Stammes, die die Massai zu einem kulturellen, politischen und ökonomischen Rückstandsgebiet gemacht hatte, was eigentlich für ihre Sicherheit gegenüber diesen Einflüssen hätte sorgen sollen. Aber es war eine monströse Falle gewesen. Wären die Massai innerhalb einer Massaiwelt geblieben, wären sie in Sicherheit gewesen. Aber sobald Außenseiter ihre
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