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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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Versteck für entflohene Strafgefangene und Schmuggler geworden war. Sie beschloss, es Jack gegenüber nicht zu erwähnen.
    Am hinteren Ende des alten Hospitals befand sich die erste einer Reihe von Hütten. Sie waren aus unterschiedlichen Materialien gebaut – sofern »gebaut« der angemessene Begriff war –, überwiegend aus Treibgut. Die Bewohner, einer oder zwei pro Hütte, waren in einer schrecklichen Verfassung. Malaika hatte ein schlechtes Gewissen, in diese jämmerlichen Behausungen zu schauen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Aber die meisten Bewohner waren zu schwach oder zu verzweifelt, um sie überhaupt zu bemerken.
    »Was ist das hier für ein Ort?«, flüsterte Jack. »Was ist mit diesen Leuten los, Malaika? Gab es eine Epidemie?«
    Malaika hatte es ebenfalls bemerkt. Hustenanfälle. Starkes Schwitzen. Offene Geschwüre überall an den unterernährten Körpern. Es war nicht eine einzige gesunde Person zu sehen.
    »Keine Epidemie. Ich nehme an, das sind, was die westlichen Ärzte opportunistische Krankheiten nennen – Infektionen, die angreifen, wenn der Körper nicht zurückschlagen kann. Tuberkulose. Malaria.« Sie sah sich um. »Ich denke, diese Leute haben Aids.«
    Jack schaute zurück zu den Hütten, an denen sie vorbeigekommen waren, und dann nach vorn, wo weitere standen. »Wovon leben sie?«
    »Ich denke, vom Handel?«
    »Was haben sie anzubieten?«
    Ein Mädchen, wahrscheinlich ein Teenager, aber so dünn, dass ihr Gesicht keine individuellen Züge mehr hatte, beobachtete sie durch die Tür ihrer Hütte. »Manchmal ist es besser, das nicht zu wissen.« Der Blick des Mädchens war ausdruckslos. Es stand keine Neugier in ihren Augen. Keine Hoffnung.
    Malaika spähte in die erschütternden Gesichter, als sie weitergingen. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überall. Niemand sagte etwas. Bestenfalls begegneten sie bei denen, die bei etwas besserer Gesundheit waren, milder Neugier. Unheimliche Stille lag über dem Ort, als ginge man über einen Friedhof, auf dem statt Grabsteinen Hütten standen und wo man den Leichen noch keine Münzen auf die Augen gelegt hatte.
    Auch Jack suchte nach Gesichtern. »Hey, Malaika. Ich habe mir all diese Leute angesehen, aber ich weiß nicht, wonach …«
    »Ich auch nicht.«
    »Was?«
    Sie hatte gerade entsetzt begriffen, dass sie nach dem Gesicht eines achtjährigen Mädchens gesucht hatte. »Ich weiß auch nicht, wie sie aussieht. O Gott.« Sie ließ den Kopf hängen, als sie begriff, wie dumm sie gewesen war. Wie sollte sie nach all dieser Zeit ihre siebzehnjährige Schwester erkennen? »Wie konnte ich so dumm sein? Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
    »Kein Foto von ihr?«
    »Nein. Ich hätte Mama fragen sollen.«
    »Nun …«
    »Vielleicht wird sie mich erkennen.«
    »Ja, das ist es. Vielleicht wird sie dich erkennen.«
    »Ich war beinahe ausgewachsen, als ich von zu Hause weggegangen bin. Ich glaube nicht, dass ich mich besonders verändert habe.«
    »Sie wird sich sicher an ihre große Schwester erinnern.«
    »Ja.« Sie sah Jack hoffnungsvoll an. »Ich … das hoffe ich … o Jack, ich habe dich umsonst hierher gebracht.«
    »Komm schon. Wir wollen nicht aufgeben. Wir haben noch Zeit.«
    An der Grenze zwischen der Vegetation und dem nackten, steilen Felsen, der sich zu einer noch steileren Granitklippe hochzog, blieben sie stehen. Von hier hatten sie einen Blick über die gesamte Siedlung.
    Jack schaute auf die Uhr. »Wir sind jetzt beinahe eine Stunde hier. Dort drüben sind noch mehr Hütten«, sagte er und zeigte auf drei, die sich in eine Felsspalte zwängten.
    »Aber wir haben noch nicht alle dort am Strand gesehen«, widersprach Malaika.
    Jack zuckte die Achseln. »Wohin also?«
    »Na gut. Schauen wir in diese drei. Dann gehen wir wieder runter und überprüfen die am Strand.«
    Die Hütten auf dem Felsen, Stücke von verrostetem Wellblech, gestützt von einem Ast, waren noch verfallener als die anderen, und den Bewohnern ging es schlechter. Bei der letzten der drei Hütten waren nur ein paar Füße zu sehen, die aus der Öffnung herausragten. Malaika steckte den Kopf hinein. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, in die Privatsphäre der Bewohner einzudringen. Niemand schien sich daran zu stören. Das Gesicht, das zurückstarrte, war eine groteske Karikatur eines Menschen. Die Lippen waren beinahe vollkommen verfault. Haut hing von den Wangen wie schimmliger Teig. Aus geschwollenem Zahnfleisch ragten Zähne hervor, die das Gesicht wie

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