Die Tränen der Massai
es mit dieser Aussätzigeninsel auf sich?« Jack stieg vom Fischerboot auf den Kai und streckte die Hand aus, um Malaika zu helfen. Dann gingen sie weiter an der Reihe vertäuter Boote entlang.
»Vielleicht liegt es daran, dass sie so abgelegen ist.«
»Hm, ich habe das Gefühl, dass jeder dieser Skipper uns gerne nach Uganda und zurück bringen würde – immer vorausgesetzt, wir zahlen gut genug.« Er spähte nach Nordwesten. Der Himmel über Uganda war klar, aber ein Wolkenband im Osten drohte die Morgensonne zu verdecken. »Aber wenn man die Aussätzigeninsel auch nur erwähnt, kann man alles vergessen.«
»Vielleicht sollten wir es mit einem der kleineren Boote versuchen.«
Sie gingen weiter am Kai entlang, vorbei an vielen größeren Booten, mit deren Besitzern sie schon gesprochen hatten. »Hier ist eines. Lass es mich diesmal versuchen.«
Zehn Minuten später kam sie zurück. »Er bringt uns hin!«
Die Aussätzigeninsel tauchte nur eine Stunde später am Horizont auf. Das schmale Boot war für Geschwindigkeit gebaut – eine nützliche Eigenschaft auf einem See, der für seine plötzlichen, heftigen Sturmböen bekannt war. Das Boot schoss nur so dahin, die lange schlanke Nase hoch über der sanften Dünung. Jack und Malaika saßen im Schatten des Fliegenschutzes, während der Besitzer mittschiffs hockte, eine Hand am Steuer.
Die Insel war ein massiver Granitfelsen mit einem grünen Rand etwa eine Meile landeinwärts von der Wasserlinie. Ein paar Dingis lagen rings um die Insel vor Anker. In jedem saß ein einzelner Mann und angelte. Alle blickten dem Boot mit Jack und Malaika nach.
Als sie näher kamen, konnten sie Hütten unter den Palmen erkennen.
Am Kai hatte Malaika ein lebhaftes Gespräch mit dem Bootsbesitzer. »Er wird nicht mit uns an Land kommen«, übersetzte sie für Jack. »Er will auf dem See bleiben, bis es Zeit ist, aufzubrechen.«
»Solange er weiß, dass ich nicht bezahle, ehe wir wieder in Mwanza sind.«
»Ich denke nicht, dass das einen Unterschied macht. Er sagt, er wird zwei Stunden auf uns warten. In zwei Stunden wird er aufbrechen. Er will nicht nach Einbruch der Dunkelheit noch auf dem See sein.«
Jack warf einen Blick zum felsigen Strand, auf dem Pappkartons und Plastikmüll lagen. »Glaubst du, dass es hier schon ein Holiday Inn gibt?«
»Und er sagt, wenn ein Sturm aufkommt, müssen wir sofort zurückkehren, oder er wird ohne uns aufbrechen.«
»Es ist sein Boot. Sind zwei Stunden genug Zeit, um überall zu suchen?«
Malaika konnte etwa zwanzig Hütten sehen, nahm aber an, dass es noch viel mehr gab. »Fangen wir an«, sagte sie.
Kapitel 39
Aus Peabodys Ostafrikaführer (5. Auflage):
Das Ende der Ostafrikanischen Gemeinschaft, der Uganda, Tansania und Kenia angehörten, hat in den 70er Jahren viele Frachtunternehmen am Viktoriasee in den Bankrott getrieben.
Der kommerzielle Verkehr auf dem See ist nun sehr reduziert, was zur Schließung vieler Häfen führte und die Bewohner der kleineren Inseln zwang, ihre Dörfer zu verlassen.
D er Kai war nicht lang. Fehlende Planken und Holz, das so verrottet war, dass es unter Belastung brach, hielten sie allerdings einige Zeit auf. Das Ende, an dem sie angelegt hatten, war noch der beste Teil. Je näher sie zum Strand kamen, desto schlimmer wurde es. Die letzten paar Schritte legten sie auf einem einzelnen Balken zurück; der andere Balken und alle Planken waren weg. Malaika nahm an, dass man den Kai für Baumaterial geplündert hatte.
Ganz in der Nähe des Kaiendes befand sich die Ruine eines großen Holzgebäudes. Das Dach war abgedeckt worden, und die meisten Holzdielen waren ebenfalls verschwunden. Das größte Überbleibsel war ein gemauerter Kamin. Selbst den hatte man zum Teil abgebaut, zusammen mit dem größten Teil des Schornsteins.
»Das hier war wohl das Krankenhaus«, sagte Malaika, als sie und Jack vorbeikamen.
»Krankenhaus? Wieso sollte es hier draußen ein Krankenhaus geben?«
»Für die Aussätzigen.«
»Aussätzige? Du meinst, hier war wirklich eine Aussätzigenkolonie?«
»Selbstverständlich. Der Bootsbesitzer sagt, sie wurde nach der Unabhängigkeit geschlossen.«
Es gab kein unruhiges Schulkind in Mwanza, dem man nicht irgendwann einmal damit gedroht hatte, es auf die Aussätzigeninsel zu verbannen, der Heimat von Geistern und schwarzer Magie.
Malaika wusste nicht, was sie vom Rest der Geschichte halten sollte, die der Mann ihr erzählt hatte – dass die Insel zu einem
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