Die Tränen der Massai
nicht besser gestellt war. Mengoru lächelte. Der schlaue Onkel Nicholas prüfte seinen Neffen wahrscheinlich, bevor er ihm Früchte von weiter oben auf seinem Baum anbot.
Als Mengoru dem jungen Onditi zum ersten Mal begegnet war, hatte er sofort daran gedacht, dass dieser junge Mann einen hervorragenden Ehemann für seine eigensinnige Tochter abgeben würde. Aber bei genauerem Nachdenken erkannte er, dass es nicht funktionieren würde. Als Kalenji konnte Onditi keine traditionelle Massaihochzeit feiern. Und ohne die angemessene Hochzeit konnte Mengoru die Mitglieder der Massaipartei nicht beeindrucken, wie er es Nicholas Onditi versprochen hatte. Nein, es war besser, bei seinem ursprünglichen Plan zu bleiben. Ein beeinflussbarer älterer Massaimann, vielleicht einer, der bereits zwei oder drei Frauen hatte, wäre eine sicherere Strategie. Der junge Onditi konnte eine Frau seiner eigenen Art finden.
Er bezeichnete ihn in Gedanken stets als den »jungen Onditi«, obwohl der Mann mindestens dreißig war. In diesem Alter war Mengoru noch in der Home Guard gewesen. Gute Tage damals, dachte er. Eine Zeit, in der alle zu beschäftigt gewesen waren, sich wegen der Mau-Mau Sorgen zu machen, um sich für seine kleinen Nebengeschäfte zu interessieren. Ein junger Ochse hier, ein paar Ziegen da …
Mengoru hatte ein zweites Bier bestellt, und Onditi war immer noch nicht aufgetaucht. Das war respektlos. Er würde den jungen Mann wissen lassen, dass er besseres Benehmen erwartete. Er konnte ihn nicht mit dem Vornamen ansprechen. Vornamen zu benutzen – in diesem Fall James – war eine weitere aufgeblasene
Mzungu-
Sitte, die Mengoru vollkommen ablehnte. Aber da jeder den Familiennamen Onditi für Nicholas Onditi, den Minister für Bodenverwaltung, benutzte, war sein Neffe gezwungen, diverse Alternativen zu akzeptieren.
Das Bier wurde gebracht, und Mengoru trank gierig und schmatzte anerkennend. Er sah sich um. Die anderen Gäste waren Touristen oder Büroangestellte. Ich sollte im
Le Chateau
sein, dachte Mengoru bedauernd. Hin und wieder verschwendete er viel Zeit und Geld in diesem bei Regierungsmitgliedern beliebten Lokal, in der Hoffnung, dort die Aufmerksamkeit von Nicholas Onditi oder einem anderen Parteigetreuen zu erwecken. Aber er hatte lange Zeit kein Glück gehabt und war Außenseiter geblieben, bis es ihm schließlich vor vielen Jahren gelungen war, auf der steilen Klippe von Rückschlägen, Frustration und reinem Pech, die seinen Aufstieg zu Wohlstand und Macht blockiert hatte, ein wenig besser Halt zu finden.
An diesem typischen Junitag in Nairobi im Jahr 1963 hatte eine einheitliche Wolkendecke die Stadt in trübseliges Grau gehüllt. Die üblicheren freudigen Gold- und Blautöne waren nirgendwo zu sehen gewesen. Selbst das leuchtende Rot und Lila der Bougainvilleen schien den Mut verloren zu haben, und damit auch die Farbe. Die Nächte waren kalt genug geworden, dass Hausboys in den Wohnzimmern den Kamin anzündeten, um die kalten Steinhäuser von Parklands und Mathiaga zu wärmen. Im Club waren plötzlich Kaschmirpullover der letzte Schrei. Weil die hartnäckigen Wolken und Nairobis Höhenlage die jahresübliche Wärme verhinderten, flüchteten viele weiße Einwohner über das Wochenende auf eine kurze Safari hinunter zum eleganten Bells Inn in Naivasha oder sogar noch eine Stunde weiter nach Nakuru und zum See. Im Grabenbruch herrschte um diese Jahreszeit immer strahlender tropischer Sonnenschein, der einem garantiert die Kälte aus der Seele trieb.
An diesem grauen Junitag befand sich der
Mzee,
der Vater Kenias, in Nairobi. Die überfüllten Straßen der Stadt summten wie eine fest gespannte Bogensehne. Jomo Kenyatta, ehemaliger Freiheitskämpfer und ehemaliger Gefangener der Briten, weilte derzeit im Regierungsgebäude, wo er als Kenias erster Premierminister vereidigt wurde. Ein Jahr später würde man ihn zum Präsidenten der neuen Republik ernennen.
Mengoru hatte sich durch die Menge zur Polizeiabsperrung gedrängt, denn er hatte die versammelten KANU -Funktionäre in kleinen Gruppen auf der breiten gepflasterten Treppe stehen sehen. Der Bereich war umstellt von kenianischer Polizei, überwiegend Schwarze, aber unter dem Befehl eines weißen Offiziers mit buschigem Schnurrbart und einem Offiziersstöckchen. Mengoru hoffte, seine Wohltäter zu finden: den großen Mann, der ihm die Chance gegeben hatte, sich einen Namen zu machen; die Chance, selbst ein großer Mann zu werden.
Mengoru
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